Bergos und Neredia ignorierten die erregten Worte. Ihre Sorge galt ausschließlich der verwirrten Eolanee. „Wir hätten mit dir darüber sprechen müssen“, sagte Neredia leise. „Aber wir bedachten es nicht, weil es uns selbstverständlich erschien.“ Sie zog die junge Frau in den Schutz eines Kegelbaumes. „Du weißt, dass du dich nicht der Liebe zu einem Mann hingeben darfst, nicht wahr? Darüber sprachen wir.“
„Ja, ich weiß.“ Eolanee zuckte verwirrt die Schultern. „Weil sonst meine Kraft erlischt.“
„So ist es, meine Tochter.“
„Aber… aber wir haben uns nicht hingegeben.“ Eolanee sah die Baumhüterin mit großen Augen an. „Er hat nur meine Lippen berührt, nicht mehr.“
„War es schön?“
„Es war… es war… seltsam“, sagte Eolanee zögernd. „Aber irgendwie auch schön.“
„Das habe ich befürchtet“, seufzte Neredia. „Es ist eine Versuchung, der du widerstehen musst. Du darfst niemals einen Mann berühren, Eolanee. Niemals auf solche Weise, sonst sind deine Kräfte in Gefahr.“
„Aber ich berühre doch auch Bergos.“
„Das ist etwas anderes.“ Neredia lächelte sanft. „Seine Gefühle für dich sind anderer Art.“ Sie nahm die junge Frau fester in den Arm. „Ich glaube, ich werde dir noch vieles zu erklären haben.“
Während die Führerin der Baumhüterinnen mit leiser Stimme auf Eolanee einsprach, konnte Bergos seine Wut kaum beherrschen. Der junge Mann war gestolpert und zu Boden gestürzt und der alte Auraträger stand über ihn gebeugt und hatte ihn bei der Tunika gepackt. „Du hast eine Hüterin mit den Lippen berührt! Eine Hüterin! Hat man dich nicht den Kreislauf des Lebens gelehrt? Hast du nicht begriffen, wie wichtig die Gabe einer Hüterin für die Gemeinschaft ist?“
Kein Enoderi schlug einen anderen, aber Bergos schien wirklich dazu bereit zu sein. Einige Männer sahen sich nervös an und überlegten, ob sie den alten Auraträger festhalten sollten.
„Man hat es mich gelehrt“, keuchte der Jugendliche. „Aber er sagte, es sei nichts dabei.“
„Wer? Wer sagte das?“
„Ken… Kender“, kam die leise Erwiderung.
Bergos richtete sich auf und für einen Moment schien jegliche Farbe aus seinem Gesicht zu weichen. „Kender?“
„Ja.“, beeilte sich der junge Mann zu versichern. „Er sprach mich an und sagte, sie sei schön und Schönheit zu berühren, sei nichts Böses.“
„Du verdammter Narr“, sagte Bergos verächtlich.
Der alte Auraträger wandte sich ab. Er wusste, wo er Kender Ma´ara finden würde. Dort, wo auch die meisten der anderen Auraträger saßen und den Abend in fröhlicher Runde verbrachten.
„Kender!“
Bergos Schrei ließ die Männer am Tisch herumfahren. Während die meisten ihren wütenden Anführer überrascht ansahen, lehnte sich Kender zurück und sah Bergos mit hochmütigem Lächeln an. „Ah, Bergos, sei willkommen. Wir haben an diesem Abend nur wenig von deiner Gesellschaft.“
Bergos trat dicht heran, stützte sich auf den Tisch und beugte sich vor, so dass sich sein Gesicht dem von Kender näherte. „Was hast du vor, du verdammter Kerl?“
Der alte Merius, dessen Augen schon leicht glasig waren, hob seinen Becher. „Was soll dieser Unmut, Bergos, alter Freund? Komm, setz dich und feiere mit uns. Wir haben eine neue Hüterin und das ist wirklich ein Grund um zu feiern.“
Bergos ignorierte den Freund und sah Kender drohend an. „Was hast du vor?“, wiederholte er mit eisiger Stimme. „Warum hast du dem Jungen gesagt, er solle sich Eolanee nähern?“
„Oh, hat er das wirklich getan?“ Kender lachte auf. „Für so dumm hätte ich ihn nun doch nicht gehalten.“
„Oh, doch, du hieltest ihn für so dumm. Für dumm genug, auf Eolanees begehrlichen Körper zu starren und ihre Gabe zu vergessen.“ Bergos versuchte, im Gesicht seines Gegenübers zu lesen. „Warum, Kender?“
„Reg dich ab, alter Mann“, sagte Kender kalt. „Schließlich ist nichts geschehen. Und wenn, so wäre es wohl Eolanees Angelegenheit gewesen, ihre Gabe zu schützen.“
„Sie ist ein unerfahrenes Mädchen, welches die Gefahren der Liebe nicht kennt!“, brüllte Bergos erregt.
„Dann hättest du sie besser unterweisen müssen“, erwiderte Kender spöttisch.
Der Schlag traf den jüngeren Auraträger vollkommen unvorbereitet.
Niemand hatte damit gerechnet, nicht einmal Bergos, der ihn ausführte. Der Schlag warf den aufschreienden Kender nach hinten und während er zu Boden stürzte, schrien ringsum Enoderi erregt auf.
„Was hast du getan?“, keuchte Merius entsetzt. „Du hast… du hast die Hand gegen einen Menschen erhoben. Du hast Kender geschlagen! Bei der Göttin, Bergos Ma´ara´than, was für ein Dämon ist in dich gefahren?“
Kender erhob sich und etwas Blut sickerte aus einem Mundwinkel. „Dafür, Bergos, bringe ich dich vor den Rat der Auraträger.“ Sein Gesicht verzog sich zu einem triumphierenden Lächeln. „Du bist es nicht würdig, ein Auraträger zu sein und ich werde beantragen, dich auszustoßen. Und deine kleine Eolanee, die kann dich dann begleiten.“
Nie zuvor hatten Enoderi die Hand gegeneinander erhoben und nie zuvor hatte Hass zwischen ihnen gestanden. Doch nun, in diesem Augenblick, war er für alle spürbar.
Bergos atmete schwer und hörte, wie die Musik verstummte.
Merius Trunkenheit war mit einem Schlag gewichen. Betroffen sah er den älteren Freund an. „Ich fürchte, Bergos, der Rat wird zusammentreten müssen. Du weißt, ich habe dich und Eolanee immer unterstützt. Aber nun wurde Gewalt ausgeübt. Du hast die Hand gegen ein anderes Wesen erhoben. Kender blutet! Du hast Blut vergossen! Bergos, mein alter Freund, dies ist ein finsterer Tag in der Geschichte unseres Volkes.“
„Ich beantrage die Verstoßung von Bergos und Eolanee“, sagte Kender grimmig. „Gewalt wurde ausgeübt und bedroht den Kreislauf des Lebens. Das dürfen wir nicht dulden.“
„Dies ist keine Versammlung des Rates“, erwiderte Merius. Er sah Bergos traurig an. „Aber wir werden sie einberufen und über den Antrag beraten müssen.“
Bergos und Kender sahen sich an. So uneins sie sich auch sonst sein mochten, in ihrem gegenseitigen Hass waren sie verbunden.
Kapitel 7
Für Eolanee war es eine Heimkehr, bei der sie gemischte Gefühle empfand. Sie wusste, dass sie in Ayan geboren worden war und nun auf das Tal zuging, in dem sie einst mit ihren Eltern lebte. Aber ihre Eltern waren tot, erschlagen von den Berengar und dies galt für alle Menschen, die einst das Tal mit Leben erfüllten. Die meisten Jahre ihres jungen Lebens war sie in Ayanteal aufgewachsen, unter der Obhut von Bergos Ma´ara´than und Neredia Ma´ededat´than. Für Eolanee waren diese beiden zu geliebten Menschen geworden und es fiel ihr schwer, sich von ihnen zu trennen und in ein Tal zurückzukehren, das nicht mehr ihre Heimat war.
Doch der Wunsch des Rates war eindeutig.
Eolanee sollte als Hüterin der Bäume nach Ayan gehen.
Aber statt sich ihrem Heim zu nähern, empfand sie es, als würde sie sich mit jedem Schritt davon entfernen. Jeder Schritt, der sie näher nach Ayan trug, führte sie weiter von Ayanteal fort.
Als sie das große Tal von Ayanteal hinter sich ließ, da hatte sie noch geglaubt, der Weg werde ihr leichter fallen, wenn sie den Blick nicht mehr zurück wandte. Für eine gewisse Zeit, als sie durch das folgende Tal ging, war ihr Schritt beschwingt und leicht gewesen, aber nun,