Sie hörte die Schreie der Berengar und die der sterbenden Menschen, sah das Blut und die toten Leiber. Sah ihre Mutter und Betratos, sah den Busch, der ihr Leben schützte. Das alles sah sie, auch wenn es verschwommen und undeutlich wirkte. Manches hatte sie als kleines Kind nicht richtig wahrgenommen, anderes war mit brutaler Schonungslosigkeit und Schärfe in ihre Seele eingebrannt.
So stand Eolanee oben an der Straße, gekleidet in eine schlichte Toga und sie fröstelte, trotz des warmen Windes, der von den Höhen zum Tal strich. Ihre Hand krampfte sich um die Tasche mit den persönlichen Habseligkeiten. Über der Schulter hing die andere, in der sie die Dinge aufbewahrte, die zur Zunft der Baumhüterinnen gehörten. Sie wünschte, Bergos und Neredia wären nun an ihrer Seite und zugleich war sie froh, dass es nicht so war. Die Gegenwart der geliebten Menschen hätte ihr Kraft gegeben und sie zugleich geschwächt, denn die Trennung wäre nur noch schmerzhafter geworden.
Eolanee Ma´ededat konnte sich noch sehr gut an die vergangenen Tage erinnern.
Die Tage, in denen sich so vieles verwandelt hatte.
An den Abend, der so feierlich begann und so schrecklich endete.
Den darauf folgenden Morgen, als sich der Rat der Auraträger in der Ratshalle versammelte.
Die beiden metallenen Türflügel waren verschlossen worden, was mehr als ungewöhnlich war. Die Menschen warteten vor der Halle, Stunde um Stunde, denn noch nie zuvor war ein Auraträger der Gewalt bezichtigt worden. Aber viele hatten selbst miterlebt, wie Bergos die Hand gegen Kender erhoben hatte. Blut war geflossen, vergossen von einem Enoderi. Eine Ungeheuerlichkeit, eine Einzigartigkeit in der Geschichte des Volkes. Der Kreislauf des Lebens war geschändet worden, noch dazu von einem Auraträger, der geschworen hatte, diesen Kreislauf zu schützen.
Jeder im Volk nahm Anteil daran. Jeder tat dies auf seine Weise und mit seiner Stimme. Manche waren voller Entsetzen über die Tat und flüsterten von Verbannung, andere empfanden Mitgefühl. Aber die meisten waren einfach verwirrt und verstanden nicht, wie etwas so Furchtbares hatte geschehen können. Neredia und Eolanee hatten sich bei der Hand gehalten und es war nicht die nächtliche Kühle gewesen, die sie unmerklich zittern ließ. Die ganze Nacht über harrten sie aus und die meisten der anderen mit ihnen. Nie zuvor beriet sich der Rat so lange und dann, am frühen Mittag, erschien sogar die Weise Prophetin. Die Tür der Ratshalle öffnete sich kurz und schloss sich auch schon wieder, kaum dass die schlanke Gestalt in der roten Robe eingetreten war. Erneut begann das Warten und die Anspannung war sogar noch gewachsen, denn die Prophetin betrat die Halle der Auraträger nur sehr selten. Als die Türflügel aus Metall schon wenig später wieder auseinander glitten, erfolgte es so unerwartet, dass die Menschen erschraken und wie gebannt in die Öffnung starrten. Zunächst erschien die Prophetin, doch sie sprach kein Wort, sondern schritt schweigend ihres Weges. Noch während ihr alle Blicke folgten, war Merius, der alte Auraträger, fast unbemerkt hervor getreten. Ein Raunen war durch die Versammelten gegangen.
„Hört mich an, ihr Menschen des ewigen Kreises des Lebens.“ Merius hatte seine Arme erhoben, als wolle er die Anwesenden segnen. „Hört meine Worte und verkündet sie jenen, die sie nun nicht vernehmen.“
Der weißhaarige Auraträger hatte mit leiser Stimme gesprochen, aber die Menge war so still gewesen, dass nahezu jeder seine Worte verstand und wer doch zu weit entfernt war, dem waren sie hastig von den anderen zugeflüstert worden.
„Bergos Ma´ara hat die Hand gegen ein anderes Leben erhoben und damit gegen den Kreislauf des Lebens verstoßen. Trotz dieses schweren Vergehens hat der Rat der Auraträger beschlossen, Bergos nicht zu verstoßen und auch nicht aus dem Kreis auszuschließen.“ Erneut hatte sich Raunen erhoben und Merius forderte zur Ruhe auf. „Er ist jedoch nicht mehr der Ma´ara´than. Der Stirnreif des Führers geht, nach Beschluss des Rates, auf mich über. So habe ich, Merius Ma´ara´than, nun die Pflicht, folgendes zu verkünden: Bergos Ma´ara und seine Aura werden ab sofort dem Schutz der südlichen Täler gelten. Die Baumhüterin Eolanee wird nach Norden in ihr heimatliches Tal Ayan gehen. Beiden ist der Kontakt zueinander verboten. Dies ist der Beschluss des Rates.“
Eolanees Hand hatte sich in die von Neredia gekrallt. In die Freude darüber, dass man Bergos nicht härter strafte, mischte sich die Verzweiflung, dass die Gemeinschaft, welche die junge Frau als ihre Familie empfand, auseinander gerissen würde.
Sie erhielt nicht einmal die Gelegenheit, sich von Bergos zu verabschieden. Freundlich, aber bestimmt, zog man sie von der Ratshalle fort und sie musste ihre persönliche Habe hastig packen. Auch der Abschied von Neredia fiel kurz aus. Viel zu kurz. Andere Baumhüterinnen begleiteten sie zur Straße und wünschten ihr Glück.
Das alles geschah so schnell, dass Eolanee kaum zu Sinnen kam.
Es war nicht so, dass die Menschen ihr Böses wollten. Sie mochten die junge Baumhüterin, deren Gabe so außergewöhnlich war. Aber die Bewohner des Tals waren erleichtert, mit Eolanee die Ursache des furchtbaren Ereignisses aus Ayanteal zu verbannen.
Nun stand die junge Baumhüterin auf der Straße oberhalb Ayans und beim Anblick des Tals füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie dachte an Bergos und Neredia und setzte ihre Füße nahezu blind auf den Boden, stolperte, als sie gegen einen Stein stieß und stürzte hin. Sie fiel auf die Knie und ihre Handflächen prallten auf den Weg. Ein Stein stach in ihren Handballen und der scharfe Schmerz riss sie aus ihrem Kummer. Instinktiv säuberte sie ihre Hand und zog einen der Stoffstreifen aus der Tasche, mit denen die kranken Fangwurzeln markiert wurden, um die Wunde zu versorgen. Während sie ihn verknotete, warf sie einen Blick über das Tal. Es sah so friedlich aus und nichts erinnerte an das grausame Ereignis der Vergangenheit.
Sie sah den Wald der einfachen Bäume, wo sich die Dornbüsche befanden, sah den breiten Saum, der ihn von dem Rund der Kegelbäume trennte und davor die Felder, die bald reif zur Ernte sein würden. Ein paar Menschen waren dort unterwegs, die sich der Pflege der Pflanzen widmeten. Kinder tollten umher, deren fröhliches Geschrei bis zu Eolanee drang. Sie entdeckte einen Mann und eine Frau, die zwischen den Feldern auf sie zukamen. Ganz offensichtlich war Eolanee ihr Ziel, denn die Frau hob die Hand und winkte freundlich.
Ayan, die alte und neue Heimat, erwartete sie.
Eolanee erhob sich, klopfte ihr Gewand ab und schämte sich ein wenig, da sie durch den Sturz schmutzig geworden war und nicht den Eindruck einer ehrwürdigen Baumhüterin vermittelte. Seufzend nahm sie ihre Taschen auf und ging dem Paar entgegen.
Der Mann und die Frau hätten kaum gegensätzlicher sein können.
Der Enoderi war klein und sehr schmächtig. Sein Gesicht zeigte die Falten hohen Alters und die einstige Pracht seiner Haare beschränkte sich nun auf einen schmalen Saum, der seinen Kopf, dem Stirnreif eines Auraträgers ähnlich, umgab. Die Frau hingegen war groß und dabei sehr rundlich. Eolanee sah die Tasche, die über ihre Schulter hing und wusste, dass es sich um eine Baumhüterin handelte.
„Willkommen! Willkommen in Ayan“, rief die Frau schon aus einiger Entfernung und breitete dabei freudig die Arme aus. Ihre Umhängetasche verrutschte und sie schob sie hastig zurück, dabei ein strahlendes Lächeln im Gesicht. „Willkommen, willkommen.“
Eolanee fühlte sich umschlungen und die Frau presste sie auf eine Weise an sich, dass sie kaum noch atmen konnte. Über die Schulter der Frau sah sie den alten Mann, der sichtlich nach Luft schnappte und wortlos nickte. „Willkommen“, schnaufte er schließlich. „Auch mein Willkommen, Baumhüterin.“
Die Frau gab Eolanee frei, nur um sie dann erneut an sich zu drücken. Ihre Freude war unverkennbar, aber die junge Baumhüterin befreite sich nun aus den Armen der anderen. „Danke für euer Willkommen, ihr guten Leute. Aber gebt mir etwas Raum zum Atmen. Eure Herzlichkeit ist überwältigend.“
„Ach, entschuldige.“ Die rundliche Hüterin trat ein wenig zurück. „Es ist nur die große Freude, dass du zu uns kommst.“ Sie legte Eolanee einen Arm um die Schultern. „Ich bat die Ma´ededat´than schon oft um Hilfe und nun, ganz überraschend und unerwartet, stehst du vor mir. Ach, du glaubst nicht, wie froh ich darüber bin. Eigentlich sollten wir in Ayan zu Dritt sein,