Der kleine Mann hatte der rundlichen Hüterin einen herzhaften Knuff versetzt. Die Frau sah ihn irritiert an und errötete. „Ach so, ja, ich vergaß.“ Ihre Röte vertiefte sich und sie sah Eolanee verlegen an. „Bei der Göttin, ich Dummerchen. Ich wollte nicht…“
„Schon gut“, seufzte Eolanee. „Ich musste ohnehin daran denken, als ich Ayan nach so vielen Jahren wieder sah.“
Der Mann straffte seine Haltung und glättete seine Toga. „Ich bin Osenas, der Älteste von Ayan. Die ganze Gemeinschaft freut sich schon auf dich, Baumhüterin. Deine Fähigkeiten sind uns hoch willkommen. Einer unserer Kegelbäume leidet und wir finden die Ursache nicht.“ Er seufzte schwer. „Ausgerechnet jetzt, wo Tisa in Ayandaru ist.“
„Ich finde es schon heraus“, versicherte die rundliche Hüterin. „Zumal Eolanee nun bei uns ist. Sie soll sehr begabt sein. Sehr begabt.“ Erneut errötete sie. „Göttin, ich habe mich dir gar nicht vorgestellt. Ich bin…“
„…Itena“, sagte Eolanee lächelnd.
Die Baumhüterin lächelte erfreut. „Ah, du hast von mir gehört.“
„Aber ja.“ Eolanee lächelte sanft. „Dein Name ist bekannt unter den Hüterinnen.“
„Ha, das will ich meinen.“ Itena Ma´ededat lachte fröhlich. „Aber lass uns erst dein Haus aufsuchen. Der lange Weg muss dich erschöpft haben. Göttin, ich Dummerchen, ich lasse dich ja kaum zu Atem kommen. Ah, sieh nur, die Menschen Ayans kommen, um dich zu begrüßen.“
Unter den Bäumen war Bewegung zu erkennen. Immer mehr Menschen traten unter den Bäumen hervor und näherten sich den Feldern, zwischen denen Eolanee mit Itena und Osenas auf die Siedlung zuging. Willkommensgrüße waren zu hören und jeder wollte Eolanee wenigstens flüchtig berühren, um sie so in die Gemeinschaft aufzunehmen. Eolanee spürte, dass die Worte ohne Falsch waren und von Herzen kamen und das minderte die schmerzlichen Erinnerungen, die sie beim Anblick der Bäume empfand.
Einer von ihnen fiel ihr sofort ins Auge. Die langen Fangwurzeln an der kegelförmigen Struktur des Baums waren auf ungewöhnliche Weise verdreht, als wickelten sie sich um einen unsichtbaren Gegenstand. Gelegentlich ging ein unmerkliches Zucken durch die Wurzeln.
Eolanee streifte ihre Tasche von der Schulter und schritt auf den Baum zu. Sie war derart konzentriert, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Menschen sich überrascht ansahen und ihr dann hastig folgten. Unterhalb der ersten Fangwurzeln blieb Eolanee stehen.
Itena trat neben sie. „Das hat er schon eine ganze Weile. Aber ich kann nichts Ungewöhnliches spüren. Natürlich hat er ein paar Borkenkäfer. Die Bäume haben ja immer ein paar Borkenkäfer. Aber die können das nicht verursachen und es ist auch kein Sommerfrost. Es ist auch kein Befall von Pilzen.“ Itena seufzte schwer. „Es ist mir ein Rätsel, Eolanee, ein wirkliches Rätsel.“
Eolanee legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick nach oben schweifen. Sie sah die Rundgänge der Häuser, aber keine Menschen. „Ist der Baum bewohnt?“
„Seit langer Zeit nicht mehr. Natürlich haben wir ihn sorgfältig gepflegt und nach Käfern abgesucht“, versicherte die Hüterin hastig. „Nun, in letzter Zeit nicht mehr so oft. Die Fangwurzeln reagieren kaum noch auf unsere Berührung und ohne Fangwurzeln ist es schwer, in die Häuser zu gelangen.“
Eolanee leckte sich unbewusst über die Lippen. Dann stellte sie ihre Taschen neben sich auf den Boden und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen hin. Sie legte die Hände mit nach oben weisenden Handflächen auf die Knie und versank in tiefer Konzentration. Die Bewohner von Ayan warteten schweigend, um sie nicht zu stören.
Schließlich öffnete Eolanee die Augen. „Käfer.“
„Ich weiß, dass Käfer im Baum sind“, meinte Itena. „Es sind immer welche in den Bäumen. Ich habe die Räume sorgfältig gespürt, Eolanee, das kannst du mir glauben.“
„Ich glaube dir. Aber sie sind im Stamm.“ Eolanee richtete sich auf und deutete auf die dicke Borke des Zentralstamms. „Dort drin. Sehr viele Käfer.“
„Sie sind nie im Stamm“, wandte einer der Männer ein. „Die Hitze der Kochstellen gefällt ihnen nicht. Sie schadet ihren Maden.“
Itena Ma´ededat seufzte in plötzlicher Erkenntnis. „Es ist mein Fehler. Ach, ich Dummerchen. Das hätte ich bedenken müssen. Der Baum wird schon eine ganze Weile nicht mehr bewohnt und so wird natürlich auch nicht gekocht.“ Die rundliche Baumhüterin blickte betroffen auf den befallenen Baum. „Aber warum sind sie nur im Stamm und nicht in den Räumen?“
„Sie haben sich sicherlich nach oben gefressen. Oben auf dem Kegel wachsen die Samenkapseln der Kegelbäume.“
„Oh, Göttin, ich Dummerchen.“ Itena zuckte die Schultern. „Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.“
„Ich weiß es nicht.“ Eolanee lächelte freudlos. „Dort oben sind die Kapseln und das, was die Fangwurzeln bewegt. Der Käferfraß muss schon weit fortgeschritten sein, sonst würden die Wurzeln noch reagieren.“ Die junge Baumhüterin deutete auf einige Männer. „Baut einen hölzernen Steig mit dem man das untere Haus erreichen kann. Ihr müsst so viele Kochstellen wie möglich befeuern. Die Hitze wird aufsteigen und vielleicht haben wir Glück, dass es die Käfer aus dem Zentralstamm vertreibt. Dann müssen wir versuchen die Krone des Kegels zu erreichen. Jene Käfer, welche der Hitze ausweichen, werden Fressgänge nach außen bohren. Wir müssen sie entfernen.“
„Ihr habt die Baumhüterin Eolanee gehört“, rief Osenas und klatschte auffordernd in die Hände. „Verliert keine Zeit und macht euch an die Arbeit. Und du, Hüterin, wirst mir jetzt zu deinem Haus folgen. Bei der Göttin, du bist kaum in Ayan und schon findest du keine Ruhe, obwohl du sie sicherlich nötig hast.“
Itena nickte. „Ich werde darauf achten, dass alles geschieht, wie du es gesagt hast. Ach, wirklich, ich bin sehr froh, dass du nun bei uns bist und mir helfen kannst.“
Osenas klatschte erneut in die Hände. „Bereitet alles vor, aber wir werden bis zum Morgen warten. Es ist spät und wir wollen uns für die Nacht vorbereiten.“ Er deutete auf einen stämmigen Mann. „Gendas, solange noch Licht ist kannst du alles vorbereiten. Morgen, bei Sonnenaufgang, steigen wir in den Baum.“
Eolanee war überrascht wie viel Zeit vergangen war. Sie hatte Ayan gegen Mittag erreicht und musste sich sehr lange in Konzentration befunden haben. Sie sah nach Westen. Die Kronen der Bäume begannen sich im Licht der sinkenden Sonne rötlich zu färben.
Die Menge verlief sich um die Vorbereitungen für die Nachtruhe zu treffen und eine Gruppe von Männern eilte mit Gendas davon, um Holz und Werkzeug zu holen. Der Aufstieg in den Kegelbaum wäre ein Leichtes gewesen, wenn dessen Fangwurzeln noch reagiert hätten, aber das war nun einmal nicht der Fall. Der Abstand zwischen den Bäumen machte es auch unmöglich, die Wurzeln eines anderen Baumes zu nutzen und so blieb nur die Möglichkeit, eine Leiter zu bauen.
Osenas führte Eolanee zu einem mittelgroßen Kegelbaum. „Es ist ein schönes Haus, du wirst dich darin wohl fühlen“, versicherte der Älteste von Ayan. Er berührte eine Fangwurzel, die sich streckte und eine Sitzschlinge bildete. „Wir haben schon einige Dinge hinein geschafft, die dir nützlich sein werden. Ein paar Vorräte, Decken…“
Eolanee brauchte ihre Fangwurzel nicht zu berühren. Sie streckte die Hand aus und der Baum spürte sofort ihre Kraft und eine seiner Wurzeln wuchs der jungen Hüterin bereitwillig entgegen. Während sie beide sanft nach oben glitten, blickte Eolanee sich um. Die Sonne sank schnell. Der Boden lag schon in Dunkelheit und nur ein kleiner Teil des Tals wurde noch von dämmerigem Zwielicht erhellt. Aus den Augenwinkeln sah Eolanee eine Bewegung, die ihre Aufmerksamkeit erweckte und der Baum spürte ihren Wunsch und ihre Wurzel verharrte. Osenas,