DIE HAVARIE. Klaus J. Hennig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus J. Hennig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844239164
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welcher Insel? Dutzende zwischen Judäa und Italien, Hunderte, wenn man auch die unbewohnten zählen möchte. Viele griechisch oder barbarisch, manch eine römisch wie Delos. Wäre es nun an einer römischen Insel geschehen, hätte da nicht der claudinische Erlaß noch Gültigkeit, und die kaiserliche Kasse bezahlte das verlorene Getreide? Bei Schiffsverlusten in der Winterfahrt?

      Wie gesagt, Aelius Tullius hatte ein Problem, dessen finale Dimension Philippos zunächst nicht klar war. Er schien nur ein Appendix des Ex-Senators zu sein, sein Klient, nicht mehr. Erst als er ihn einmal auf dessen Bitte chirurgisch behandelte, ergab sich die Möglichkeit einer Exploration, einer sicher noch oberflächlichen Anamnese, wie im Folgenden ausgeführt:

      Betr. D. Aelius Tullius, Ermittlungsbeamter, Seeamt hier, Sohn eines Freigelassenen der Aeliusschen Ziegeleien am oberen Tiber. Volle Bürgerrechte. Zwanzig Jahre Militärdienst in Niedergermanien. Anhänger des Mithraskultes. Alleinlebend, keine engeren Freundschaften. Heterosexuell orientiert, seltene Kontakte zu Prostituierten, Masturbation überwiegt. Neigt zu Geiz. Alkoholkonsum für ehemaligen Militär eher mäßig, empfindet auffällige Abneigung gegen möglichen Kontrollverlust. Verdeckte Symptome neurotischer Aggressionsunterdrückung. Chronisches Epidermis-Syndrom, wahrscheinlich psychogen: Kratzspuren in allen Abheilungsstadien im Haarbalg am Kopf, im Schamhaarbereich, auch an Schienbeinen u. Kniekehlen. Vermutlich eine biographiebedingte Störung der Reizverarbeitung in Form nachhaltiger vegetativer Affektreaktionen, bedingt-reflektorischer Fehlfunktion oder psychischer Fehlentwicklung. Eine Organneurose, bzw. psychosomatische Störung mit ihren körperlichen Symptomen scheint evident. Die Abgrenzung zur Psychoneurose ist jedoch schwierig, letztere ist lediglich in unbestimmten charakterlichen Veränderungen wie Kontaktstörungen, Selbstunsicherheit, depressiver Verstimmung zu vermuten.

      Gez. IM Aesculap

      Wenn er derlei unter der Bodenplatte zwischen den Brennesseln am Munniusgrabmal abgelegt und durch den Latrinengestank zur Straße zurückgefunden hatte, fragte er sich, was Lupus Mielus, seine OBEs, damit wohl anfangen mochten. Beschwert hatten sie sich in all den Jahren noch nicht, waren wohl zufrieden, ihren Vorgesetzten damit Diensteifer und anschwellende Aktenbestände vorweisen zu können.

      IX

      

In dieser Stadt ein Mithräum zu finden war einfach. In Ostia gab es mehr als ein Dutzend, doch Tullius hatte es nach seiner Ankunft damit nicht allzu eilig gehabt. Manchmal war er einigen Uniformierten gefolgt, die sich unauffällig auf eine bestimmte, eben auch seine Art begrüßt und danach ihren Weg zusammen fortgesetzt hatten. Doch war er ihnen lange nicht in eins der Gebäude gefolgt, in denen sie dann, wie vom Erdboden verschluckt, verschwunden waren.

      Seit er auf dem Seeamt täglich seine Stunden absaß, hatte Tullius immer einen aufmerksamen Blick für die Waffenträger des Imperiums gehabt. Auf seinem langen Marsch von Norden war er ganz selbstverständlich noch Soldat gewesen, das Kurzschwert allerdings am Reisesack, und übernachtete, wenn er die Wahl hatte, lieber in einem Legionsstützpunkt als in der Herberge gegenüber, wo sie einen schon blöde anglotzten, wenn er nach Werkzeug fragte, um sein Schuhzeug neu zu benageln.

      Doch einmal hatte vor der Neptunstherme ein deutlich keltisch gefärbtes Latein seine Aufmerksamkeit gefangen, aus zwei Marinesoldaten waren vier, fünf und sechs geworden, die den Decumanus hinunter geschlendert und an den Fischhallen rechts, als ob sie zu den alten Kais hin wollten, in die Via del Foce abgebogen waren. Er war denen auch weiter in die enge Seitengasse und die Stufen hinunter in die Keller der Therme gefolgt, hatte sich dort neben dem Schöpfrad gewaschen, sorgfältig darauf geachtet mit dem rechten Fuß zuerst über die Schwelle in das Gewölbe einzutreten und sich mit seiner Soldatenmaske auf eine der beiden langen Steinbänke an den Längswänden niedergelassen, zuerst einmal noch möglichst weit vom Altartisch. Hinter dem fiel von oben das Licht auf den aus dem Fels geborenen Mithras, der, sein Schwert in den Stier stoßend, das Böse selbst besiegte. Bei den Legionen liebte man den kämpfenden Gott, der auch der Sonne immer wieder zum Sieg verhalf. Hier würde er in weitere Mysterien eingeweiht werden, Stufe für Stufe mehr wissen dürfen über die Bilder, die Sternzeichen und die Macht, die, noch hinter dem Großen Bären, die Bewegungen des Himmels beherrscht. Warum wendet Mithras das Gesicht ab und blickt nicht auf sein Tun wie Nike, wenn er den Stier opfert? Warum ist der Kopf des Tieres rechts, am nächtlichen Himmel aber, in seinem Sternzeichen, links? Die Fackeln der Dioskuren zeigen den Beginn von Frühling und Herbst, warum aber halten sie ihre Beine gekreuzt? Er mußte Geduld haben. Aus dem Blut des besiegten Stieres wächst der neue Wein, aus seinem Schwanz der Weizen, jedes Jahr neu, er mußte Geduld haben. Was tun Skorpion und Schlange an seinem Gemächt? Geduld. Der die Sterne bewegt, wird auch ihn, Tullius, zu sich hinaufheben.

      »Im Namen des Gottes, der die Erde vom Himmel geschieden hat, das Licht von der Finsternis, den Tag von der Nacht, die Welt vom Chaos, das Leben vom Tod und das Werden vom Vergehen, schwöre ich nach bestem Wissen und Gewissen, die Mysterien geheim zu halten, die mir anvertraut wurden durch unseren gottesfürchtigen Vater und durch den ehrwürdigen und heiligen Herold, denen die Weihen obliegen, und durch meine miteingeweihten und sehr teuren Brüder. Treu meinem Eid hoffe ich, daß es mir wohlergehe; aber ich schwöre auch, daß mich Strafe treffen möge, wenn ich zum Verräter werde.«

      Die langen Bänke füllten sich, die Worte drangen undeutlich durch die Masken, doch er kannte die Texte, murmelte nun selbst, was er niemals zu verraten geschworen hatte. Alles weitere würde sich finden, das heilige Mahl mit den Brüdern, geweihtes Brot, Wasser und Wein, die Symbole der Mitteilung göttlichen Lebens. Auf sein Fell hingelagert verzehren auch Mithras und Sol Fleisch und Blut des Stieres. Tullius war wieder in der Gemeinschaft der Kameraden und mit dem stiertötenden Gott, der das Blut vergoß, um die Finsternis zu überwinden, um neues Leben zu schaffen, ewiges vielleicht. Sein Bein schmerzte ihn nicht, auch kein Juckreiz in der Kopfhaut, er war angekommen, das spürte er deutlich und warm.

      Zu oft schon, seit er der schäbigen Ziegelei am Tiber den Rücken gekehrt hatte, hatte er sich gefragt, in welchem Land, welcher Stadt, welchem Lager, bei welcher Frau er je wieder zu Hause gewesen wäre. Manchmal war es nur ein Geruch, der ihn fremd bleiben ließ, nur der Klang einer anderen Sprache. Oder man benutzte bekannte Worte in einem anderen Sinn, wie ihm das auch hier in Ostia immer noch begegnete, nicht nur in den Amtsräumen oder an den Hafenkais. Der Mann, der nur alt genug werden wollte, um, am Strom sitzend, die Leichen seiner Feinde vorbei treiben zu sehen, hatte gut lachen. Der war seßhaft. Kein Legionär, den ein Befehl Orte, ja Erdteile wechseln ließ. Hatte er überhaupt Feinde? Niemand hatte jemals sein Leben so bedroht wie dieser keltische Bulle, keine fünf Fuß Stockmaß, aber ein paar Zentner geballte Wut. Tullius fühlte sich dem Mithras zu Dank verpflichtet, mehr noch als seinem Patron.

      X

      

Bei den Corporationen hatte Tullius sich sagen lassen, daß die Orion ein solide gezimmertes Handelsschiff gewesen sei, vor sechs oder acht Jahren an der cilicischen Küste gebaut, die Größe etwas über dem Durchschnitt. Eine Corbita. Leichtes Schulterzucken. Manche nennten diesen Typ eben immer noch so. Er also nicht? Als jüngerer Reeder ginge er mit der Zeit, auch der Befrachter wegen, die einem bei altmodischen Typenbezeichnungen immer gleich halbe Wracks unterstellten und die Frachtraten zu drücken suchten. Aber auch die Altvorderen hätten Seeschiffe gebaut, die diesen Namen verdienten. Vor Jahrhunderten schon. Die Orion selbst einmal gesehen zu haben, könne er sich zwar nicht erinnern, aber man habe hier unter Kollegen den Fall ausführlich beredet. Natürlich sei auch Schadenfreude aufgekommen, wegen der Reisezeit so spät im Jahr. Als jüngerer Reeder könne er das verstehen, allzu große Geldgier straften die Götter, wenn auch nicht immer. Leider. Auch neige er als jüngerer Reeder zu solider, langfristig angelegter Geschäftspolitik, zu der eben auch risikomindernde Vorsicht gehöre. Auf See könne viel geschehen, in den allermeisten Fällen erführe man niemals etwas über die Einzelheiten einer Havarie. Da schicke man sich halt ins Warten und schriebe irgendwann Schiff und Ladung, auch die Mannschaft natürlich, ab. Doch an Bord der Orion hätten alle überlebt, äußerst selten das.

      An den alten Tiberkais, etwa in Höhe des kaiserlichen Palastes, läge übrigens