Ralf Baumann beobachtete alle Vorgänge im Zusammenhang mit der Privatisierungsvorbereitung sehr sorgfältig und wunderte sich, mit welcher Eile die schwerwiegendsten Entscheidungen für die einzelnen Unternehmen getroffen wurden. Für die Unternehmen und ihre Beschäftigten ging es ums Überleben. Die Treuhand stand unter enormem Zeitdruck. Sie musste die Entscheidung, ob ein Unternehmen sanierungsfähig ist oder nicht, für 12.000 Betriebe innerhalb von einem bis zwei Jahren treffen. Ihm wurde klar, dass die Entscheidungen über die Sanierungsfähigkeit, die Auswahl des Privatisierers und die Genehmigung der Fördermittel nicht mit der notwendigen Sorgfalt getroffen werden könnten. Dann dachte er weiter. Wie sollte es unter diesen Bedingungen gelingen, zu kontrollieren, wie die gewährten Fördermittel verwendet würden? Zu dieser Frage sollte er bald Anschauungsunterricht erhalten.
Die Leute von der Treuhandanstalt kamen häufig. Sie sprachen mit dem kommissarischen Geschäftsführer und jedes Mal, wenn sie wieder gingen, waren neue Entlassungen beschlossen worden. Ralf Baumann wurde fast immer zu den Beratungen hinzugezogen. Er kümmerte sich um die Liquidität des Betriebes und verhandelte mit den Abgesandten der Treuhand über die laufenden Zuschüsse, die nötig waren, um das Unternehmen am Leben zu erhalten. Inzwischen war die Belegschaft auf 800 Kollegen und Kolleginnen geschrumpft. Die Produktion war ganz zum Erliegen gekommen und die verbliebene Belegschaft wurde mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Die Treuhand zahlte zwar die laufenden Kosten, aber die Stimmung unter den Leuten wurde von Tag zu Tag schlechter.
Da tauchte eines Tages eine Delegation von Westdeutschen auf, begleitet von einem Abteilungsleiter der Treuhand, die eine Betriebsbesichtigung vornahmen. Der Geschäftsführer und der technische Betriebsleiter führten sie zwei Stunden durch alle Bereiche des Unternehmens.
Anschließend setzte man sich im großen Besprechungsraum zusammen. Auch Ralf Baumann und der Hauptbuchhalter wurden dazu gerufen. Es stellte sich heraus, dass die Leute von einem großen westdeutschen Automobilzulieferer kamen. Das Team bestand aus einem Ingenieur, einem Architekten und einem Unternehmensberater sowie drei Assistenten. Der Herr von der Treuhand erläuterte zunächst den Zweck des Besuches. Die Konzernleitung des westdeutschen Unternehmens wolle sich ein Bild von dem Zustand der Schraubenfabrik machen und dann entscheiden, ob sie in Verhandlungen mit der Treuhandanstalt treten sollte wegen einer etwaigen Übernahme des Betriebes. Der Konzern würde einen großen Teil der Automobilindustrie in der Welt mit Teilen beliefern und überlege, ob es sinnvoll sei, die Lieferpalette um Schrauben und anderes Befestigungsmaterial zu ergänzen. Dann übergab er dem Ingenieur das Wort.
„Ja, meine Damen und Herren, ich will es frei heraus sagen, die Führung durch den Betrieb hat bei mir einen Schock hinterlassen und ich kann hier auch für meinen Kollegen sprechen, der sich den Zustand der Baulichkeiten angesehen hat. Natürlich handelt es sich um einen allerersten, oberflächlichen Eindruck. Sollte sich die Konzernleitung zu einer Aufnahme von konkreten Verhandlungen entschließen, müssten weitere gründliche Untersuchungen vorgenommen werden. Aber der erste Eindruck ist, wie gesagt, schlicht katastrophal. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Betrieb derartig herunter kommen könnte. Die Gebäude müssten fast alle generalüberholt, wenn nicht abgerissen werden. Der Maschinenpark ist total veraltet und außerdem sehr schlecht gewartet. Die logistische Anordnung der Gebäude und Maschinen entspricht nicht im Entferntesten dem heutigen Stand der Technik. Wir werden uns überlegen, falls die Konzernleitung tatsächlich eine Schraubenfabrik haben will, ob wir nicht den Neubau einer Fabrik auf der grünen Wiese empfehlen sollen.“
Dann ergriff der Architekt das Wort. „ Ich habe mich unterwegs während der Führung mit meinem Kollegen abgestimmt und wir sind nach einer vorläufigen überschläglichen Schätzung übereingekommen, dass der Investitionsbedarf für diesen Betrieb zwischen 100 und 200 Millionen DM liegt. Wir können uns nicht vorstellen, dass die Treuhandanstalt, sprich, die Bundesrepublik Deutschland, bereit ist, eine solche Summe in einen maroden Betrieb zu stecken. Ich muss es wirklich sagen, es ist ein Jammer, dass Ihre Regierung einen Betrieb derart herunterkommen lassen konnte. Wir haben uns das niemals vorstellen können, dass so etwas möglich ist. Ich kenne außer diesem Betrieb keine weiteren Betriebe in der ehemaligen DDR, aber wenn dieser Betrieb typisch ist für den Zustand aller DDR - Betriebe, dann hat die Bundesrepublik wirklich ein Problem.“
Der Abgesandte der Treuhandanstalt fühlte sich jetzt angesprochen und sagte: „Meine Herren, Sie haben mit Allem, was Sie gesagt haben, recht und ich will nichts beschönigen. Wir sind sehr daran interessiert, dass die westdeutsche Industrie sich im Osten engagiert und wir haben durch Beschlüsse der Bundesregierung sehr viel finanziellen Spielraum, ein solches Engagement zu unterstützen. Die von Ihnen genannte Größenordnung schreckt uns nicht. Wir können durchaus einen Betrag von 100 bis 200 Million zum Erhalt von Arbeitsplätzen und zur Schaffung einer neuen industriellen Infrastruktur einsetzen. Sie sollten Ihrer Unternehmensleitung signalisieren, dass sie bei einem Engagement im Osten mit jeglicher Unterstützung rechnen kann.“
Der Unternehmensberater bat den Hauptbuchhalter um Überlassung eines Exemplars der DM-Eröffnungsbilanz und falls vorhanden um eine detaillierte Liste des gesamten Anlagevermögens. Ralf Baumann wies darauf hin, dass sie sich im Unternehmen natürlich auch Gedanken um die notwendigen Investitionen gemacht hätten und dass er den Herren eine Kopie der internen Planungsunterlagen überlassen könne. Dieses Angebot wurde dankend angenommen. Nach einem gemeinsamen Mittagessen in der Werkskantine verließ die Abordnung am Nachmittag das Werk. Der Geschäftsführer meinte, „das war‘s ja wohl.“
Nach einer Woche teilte ihnen die Treuhandanstalt mit, dass die Konzernleitung an einer Übernahme nicht interessiert sei. Die westdeutsche Großindustrie hatte durchweg kein Interesse daran, bei der Privatisierung der ostdeutschen Industrie mitzuwirken. Zu groß waren die Schwierigkeiten. Da half auch nicht der Wink mit den vielen Millionen, die die Treuhandanstalt zur Verfügung stellen wollte. Warum sollten sie sich diese Probleme aufladen? Es waren kühle Rechner, die Leute in den Konzernzentralen, die genau wussten, dass es viele Jahre dauern würde, bis ein solches heruntergekommenes Unternehmen rentabel arbeiten würde. Diese Betriebe hatten ja keinen Absatzmarkt mehr und keiner wusste, wie sich die Arbeitnehmer in den Neuen Bundesländern verhalten würden. Diese waren alle frustriert durch den Zusammenbruch ihrer gewohnten Gesellschaftsordnung und es war anzunehmen, dass sie es nicht gewohnt waren, in den Leistungskategorien eines am Gewinn orientierten Unternehmens zu denken und zu handeln. Mit anderen Worten: ihre Produktivität wäre höchstwahrscheinlich ungenügend.
Im Laufe der nächsten Wochen kamen noch andere Interessenten. Sie schnüffelten überall herum und beschäftigten die Kollegen in den technischen Abteilungen und im kaufmännischen Bereich mit ihren Fragen und Berechnungen tagelang. Aber es kam nichts dabei heraus. Auch die Treuhandanstalt war inzwischen ziemlich frustriert, da sich herausstellte, dass ein Teil der Interessenten nicht ernst zu nehmen war. Es handelte sich um Glücksritter und Geschäftemacher, die allzu offensichtlich nur an den Fördermitteln interessiert waren.
Atmosphäre im Büro
Im Büro roch es nach „Hausmacher Leberwurst“. Die Kollegin Herta hatte gerade ihr Frühstücksbrot verzehrt. Die Deckenlampen, die auch tagsüber eingeschaltet waren, verbreiteten ein trübes Licht. Auf jedem der sechs zu einem Block zusammengestellten Schreibtische war die Tischlampe eingeschaltet. In deren mattem Lichtkegel sah man die Hände der fünf Kolleginnen wie sie in Aktenordnern blätterten, Belege sortierten oder über die Tastatur ihres Robotron PCs huschten. Durch die schmalen hohen Fenster konnte man die tief hängenden grauen Wolken des Novembertages sehen. Die Fensterscheiben waren durch jahrelanges nachlässiges Putzen fast erblindet, in den Ecken und an den Rändern hatten sich Schmutzränder gebildet.
Ralf Baumann ließ seinen Blick von der Fensterseite über die lange Reihe grauer Stahlblechschränke wandern, die an der Seitenwand standen. Er saß an einem der beiden einander gegenüberstehenden Schreibtische, die am weitesten von der Fensterseite entfernt waren, dafür am nächsten zur Tür standen. Oben auf den Stahlschränken waren Karteikästen