Der Buchhalter. Gerhard Haustein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Haustein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844239294
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nicht mehr rückgängig zu machen sei, entsetzlich. Auch der Kampf des Körpers gegen den totalen Luftmangel würde schlimm sein. Aber er war davon überzeugt, dass das Ganze nur eine Minute dauern würde.

      Er dachte noch einmal an seine Frau und seine Kinder, dann stieß er mit seinen Füßen den Tisch um. Er zappelte tatsächlich nur etwa eine Minute.

      Damit hatte die „Privatisierung“ der Schraubenfabrik Gera, ehemals volkseigener Betrieb „ Clara Zetkin“ ihr erstes Opfer.

      Seit der große und für die Versorgung des Ostblocks mit Schrauben und Fittings so wichtige Betrieb durch die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten praktisch überflüssig geworden war, hatte man die Produktion um 90% heruntergefahren, jeden Tag wurden Entlassungen vorge-nommen. Seitdem hing der Betrieb am Tropf der Berliner Treuhandanstalt, die sich die „Privatisierung“ der sanierungs-würdigen Betriebe der ehemaligen DDR zum Ziel gesetzt hatte. Ein notdürftiger Erhalt des Unternehmens war nur möglich durch die laufende Zuführung von Betriebsmitteln durch diese Treuhandanstalt, die durch das Bundesfinanzministerium finanziert wurde. Man war darauf eingestellt, die einzelnen Betriebe am Leben zu erhalten, so lange, bis man Jemanden gefunden hätte, der bereit war, das Unternehmen auf privater Basis zu übernehmen und wettbewerbsfähig zu machen.

      Hans Egger war nach einigen fehlgeschlagenen Privatisierungsversuchen als der große Retter aufgetaucht und hatte das Unternehmen übernommen. Seine ersten Schritte waren weitere Entlassungen.

      Ralf Baumann, der ehemalige stellvertretende Hauptbuchhalter, war nicht entlassen worden, weil er noch gebraucht wurde.

      Ralf Baumann

      Ralf Baumann war ein unauffälliger Mann. Er lebte seit seiner Geburt in Gera, dieser schönen Stadt in Thüringen. Im vorigen Jahr hatte er seinen 50. Geburtstag gefeiert. Er war immer noch ziemlich glücklich verheiratet. Seine beiden Töchter, Karin und Kerstin, 18 und 19 Jahre alt, studierten an der Uni Leipzig. Karin studierte Jura, Kerstin Biologie. Sie wohnten in den Semesterferien noch zuhause, obwohl beide einen festen Freund hatten. Ralf Baumann war 1,72 m groß, nicht sehr kräftig, aber in guter körperlicher Verfassung. Seit einigen Jahren kämpft er mit einem Bauchansatz, die Haare waren ihm zum großen Teil schon zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr ausgegangen. Sein Gesicht war geprägt von einem Leben, in dem Fleiß, Ausdauer, Beherrschung und Zurückhaltung die Hauptrolle gespielt hatten. Der energische Mund mit den sinnlichen Lippen sprach von Ehrgeiz, aber auch von Genussfähigkeit. Seine braunen Augen strahlten Ruhe und Sicherheit aus. Er hätte gerne ein markanteres, männlicheres Gesicht gehabt, ein Gesicht, das die Frauen fasziniert. Auch wäre er gern größer und stattlicher gewesen. Das war ihm leider nicht gegeben. So musste er sich damit abfinden, dass ihm die Mädchen nicht nachliefen, konnte aber doch feststellen, dass Intelligenz und beruflicher Erfolg, die ihm sehr bald Macht und Einfluss über andere Menschen gaben, ebenfalls von Frauen geschätzt wurden. Seine Hauptcharaktereigenschaften waren Gründlichkeit und Ausdauer. Im Übrigen legte er Wert darauf, unauffällig zu sein, alle Angeberei war ihm verhasst.

      Nachdem er Schule und FDJ hinter sich gebracht hatte, ohne weder im positiven noch im negativen Sinne besonders aufgefallen zu sein, entschied er sich für das Studium der Betriebswirtschaft, das in der DDR „Rechnungsführung und Statistik" hieß. Gelehrt wurden hauptsächlich Buchführung, Bilanzierung, Kosten-und Planungsrechnung. Daneben waren natürlich Marxismus-Leninismus und andere ideologische Fächer obligatorisch. Da die DDR-Wirtschaft eine zentral geleitete Staats-und Verwaltungswirtschaft war, brauchte man gutausgebildete Fachleute auf dem Gebiet des Planungs-und Rechnungswesens. Die staatlich gelenkte Wirtschaft versorgte die eigene Bevölkerung mit Waren und Dienstleistungen, daneben fand mit den anderen sozialistischen Staaten ein lebhafter Austausch statt. Gleichzeitig musste der Staatshaushalt durch direkte Abschöpfung aus den volkseigenen Betrieben finanziert werden.

      All das erforderte ein straff organisiertes und funktionierendes Planungs-Abrechnungs-und Kontrollwesen. Die Planung lief in den Ministerien für die einzelnen Branchen und Industriezweige zusammen. Die staatlichen Wirtschaftspläne mussten in den einzelnen Betrieben durchgeführt werden. Entscheidungen wurden im Zentralkomitee der SED getroffen und über die Parteiorgane an die Bezirks-und Kreisebenen und von dort aus in die Betriebe weitergeleitet. Dort lag die Verantwortung bei dem Betriebsdirektor und dem Hauptbuchhalter. Beide waren immer in erster Linie Parteikader. Bei ihnen lag ein wesentlicher Teil der Macht im Betrieb. Der Hauptbuchhalter war verantwortlich für die Soll-Erfüllung. Er musste täglich überwachen, ob die Produktion die Planungsvorgaben seitens des Ministeriums erfüllte. Deshalb wurde er durch die übergeordneten Parteiorgane nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt der Fachkenntnis, als unter dem der absoluten Linientreue ausgewählt.

      Eigentlicher Fachmann für das betriebliche Planungs-und Rechnungswesen war deshalb der stellvertretende Hauptbuchhalter. Er lieferte dem Hauptbuchhalter die Daten, die sich aus dem betrieblichen Rechnungswesen ergaben. Er war der Fachmann für die Ermittlung der betrieblichen Ist-Zahlen, wie sie durch die Buchhaltung und die Kostenrechnung laufend erfasst wurden. Das Unternehmen war mit Robotron-Hardware und-Software ausgestattet. Robotron war der Elektronikkonzern der DDR. Er hinkte zwar immer hinter den technischen Entwicklungen der westlichen und fernöstlichen Computerindustrie her, aber seine Computer und seine Software reichten aus für die Bedürfnisse der DDR-Wirtschaft. Robotron lieferte gewissermaßen Elektronische Daten-verarbeitung für den Hausgebrauch. Der stellvertretende Hauptbuchhalter musste sich in der Robotron-Elektronik auskennen.

      Die Buchhaltung erfasst, vereinfacht gesagt, alle Einnahmen und Ausgaben, die im Laufe einer Abrechnungsperiode, etwa einem Jahr, anfallen. Sie ordnet die Zahlen der Einnahmenseite und der Ausgabenseite nach sinnvollen Kriterien, sie kann so zum Beispiel das Anlagevermögen, also Gebäude, Maschinen etc.erfassen und verwalten, ebenso den Eingang, Abgang und Bestand von Materialien, die für den Produktionsprozess benötigt werden, sowie die Forderungen, die sich gegenüber Kunden ergeben und die Verbindlichkeiten, die gegenüber Lieferanten bestehen.

      Die Kostenrechnung erfasst und verwaltet alle Kosten, die für den Produktionsprozess anfallen und ermittelt die Kosten pro Kostenstelle, etwa der einzelnen Maschinen, die bei der Fertigung zum Einsatz kommen oder die Materialkosten, die in den einzelnen Fertigungsstufen anfallen. Die Kostenrechnung erfasst aber auch die Kosten je Kostenträger, d.h. für die einzelnen Produkte, die halbfertig in der Produktion lagern oder die fertig im Verkaufslager liegen oder die bereits verkauft sind.

      Mit Hilfe der Buchhaltung und der Kostenrechnung kann also die Unternehmensleitung laufend den gesamten Produktions-prozess kontrollieren und so jederzeit lenkend in alle Prozesse eingreifen. Die Buchhaltung liefert der Unternehmensleitung, der Geschäftsführung, alle Daten, die für das Management notwendig sind. Am Jahresende ergibt sich aus der Buchhaltung durch Vergleich des Vermögens am Anfang und am Ende des Geschäftsjahres der Jahresgewinn oder -verlust. Eine gutorganisierte Buchhaltung liefert in Verbindung mit der Kostenrechnung auch die kurzfristigen Ergebnisse des Produktionsprozesses, etwa monatlich oder vierteljährlich.

      Für all das ist der Hauptbuchhalter verantwortlich. Da er aber in der sozialistischen Planwirtschaft und in einer Ein-Parteien- Diktatur den Kopf voll hat mit den Problemen der Planerfüllung und der Rechtfertigung gegenüber den Ministerien und der Partei, ist er in hohem Maße von seinem stellvertretenden Hauptbuchhalter abhängig, der sich im betrieblichen Rechnungswesen besser auskennt als er.

      In einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftsordnung kommen die Zahlen, die von Buchhaltung und Kostenrechnung verarbeitet und auswertet werden, vom Markt. Das Unter-nehmen muss am freien Markt einkaufen und am freien Markt verkaufen. Der Jahresgewinn oder -verlust zeigt, wie erfolgreich das Management am Markt operiert hat. Ganz anders ist das in einer staatlich gelenkten, zentralen Planwirtschaft. Hier gibt es keinen Markt, der der Buchhaltung und der Kostenrechnung die Zahlen liefert. Die Zahlen, die im betrieblichen Rechnungswesen erfasst und verarbeitet werden, stammen aus den Plänen der Ministerien, es sind Planzahlen und Verrechnungspreise. Die betrieblichen Buchhaltungen und Kostenrechnungen arbeiten ausschließlich mit diesen Planzahlen und können das Unternehmensergebnis am Jahresende nur als Differenz zwischen Soll-und Ist-Größen ermitteln.

      Die Fachleute für das betriebliche Rechnungswesen, die an den Universitäten der