Der Buchhalter. Gerhard Haustein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Haustein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844239294
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      Als das letzte Bierglas geleert war, klopfte Ralf Baumann mit den Knöcheln auf den Tisch und verabschiedete sich von der Runde. Sein Freund, Gerd, ging mit ihm.

      Der war früher bei der Volkspolizei gewesen Nach der Wende wurden Kommissionen gebildet, die die einzelnen Beamten der „Vopo“ hinsichtlich ihrer DDR-Vergangenheit überprüften. Wenn sich keine negativen Erkenntnisse ergaben, wurde man in die Städtische-, Landes- oder Bundespolizei übernommen. Sein Freund war jetzt bei der städtischen Verkehrspolizei. Er hatte Glück gehabt, weil er als Volkspolizist nur eine untergeordnete Position hatte und niemals gezwungen war, an Maßnahmen gegen „Volksfeinde", Republikflüchtlinge oder Ähnlichem teilzunehmen. Wenn seine Einheit in der Nähe der „Mauer"oder der DDR - Grenze stationiert gewesen wäre, hätte er womöglich auf flüchtende Menschen schießen müssen. Was hätte er machen können, es gab schließlich den Schießbefehl. Die DDR war nach den Jahren ständig zunehmender "Republikflucht" mit Hilfe der Grenzbefestigungen, durch Stacheldraht und elektrische Zäune hermetisch abgeschlossen worden. Niemand sollte die DDR, das Arbeiter-und Bauernparadies, verlassen. Wenn man die Grenze gewaltsam überqueren wollte, konnte man bei dem Versuch erschossen werden. Bei erfolgreicher Republikflucht wurden die zurück-gebliebenen Angehörigen durch die Stasi schikaniert und nach dem Muster der Sippenhaft bestraft.

      Nach der Wende musste der Staat, wohl oder übel alle Menschen in der ehemaligen DDR daraufhin überprüfen, ob sie das damalige Regime aktiv unterstützt und dabei anderen Menschen geschadet hatten. Die Problematik bestand darin, dass sich die meisten Verdächtigen auf die Gesetze der DDR berufen konnten oder auf einen Befehlsnotstand. Welche Maßstäbe sollte man anlegen?

      Zunächst wurden einmal alle mutmaßlichen Nutznießer in Regierungsämtern, bei der Volkspolizei, der Nationalen Volksarmee, an den Hochschulen und öffentlichen Verwal-tungen suspendiert. Sie befanden sich dann in der sogenannten "Warteschleife" und mussten solange ohne Beschäftigung warten, bis sie überprüft worden waren. Hohe Funktionäre oder Stasileute hatten natürlich keine Chance auf Wiederbeschäftigung, sie warteten auf ihren Prozess. Die "kleinen Leute" wurden relativ schnell wieder eingestellt, da man sie zum Wiederaufbau einer funktionierenden Verwaltung einfach brauchte. Wie sollte dieses neue Staatsgebiet mit 17 Millionen Menschen funktionieren, wenn man die tüchtigen Leute alle ausschloss?

      So blieb Ralf Baumann in seinem Betrieb, wenn auch nicht mehr als stellvertretender Hauptbuchhalter und sein Freund Gerd blieb bei der Polizei.

      Da die Nacht zwar frisch, aber nicht kalt war, ließen sie sich Zeit mit dem Nachhause gehen und sprachen noch über Dies und Das. Gerd meinte, dass ihr Freund Martin das einzig Richtige gemacht habe. Er war als gelernter Bäckermeister in einer Großbäckerei tätig gewesen. Jetzt hatte er sich selbständig gemacht. Der Geschäftsführer der Großbäckerei, die in eine GmbH umgewandelt worden war, hatte ihm einen Laden in einem großen Wohngebiet vermietet, er hatte einen Gesellen, einen ehemaligen Arbeitskollegen, der entlassen worden war, sowie eine Verkäuferin, eine Freundin seiner Frau, eingestellt und der Laden lief gut.

      Aber da war auch noch Dieter, der Rechnungsführer und Kassierer des Sportvereins. Jeder wusste, dass Dieter ein „IM“, ein informeller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, der Stasi, gewesen war. Sein Sohn war noch vor dem Mauerbau 1961 aus der DDR ausgereist und hatte sich in Frankfurt (Main) niedergelassen. Er war ein guter Facharbeiter und arbeitete als Dreher in der Schraubenfabrik. Sein Sohn war also "rüber gemacht", wie es im Volksmund hieß. Deshalb wurde Dieter beschuldigt, "Westkontakte" zu haben, etwas sehr Schlimmes in den Augen der Stasi. Sein Sohn hielt sich beim Klassenfeind auf, in der revanchistischen BRD. Eines Abends wurde er in seiner Stammkneipe von einem Herrn im Ledermantel angesprochen. Der sagte ihm, man wisse an oberster Stelle, dass er Kontakte zum Westen habe. Es könne nicht geduldet werden, dass Leute wie er an leitender Stelle in einem Sportverein tätig seien und auch die Tätigkeit seiner Frau beim Ordnungsamt der Stadt sei unhaltbar. Ob seine Tochter wohl auch demnächst in den Westen abhauen würde? Sie habe ja schließlich durch ihr Studium dem Arbeiter-und Bauernstaat lange genug auf der Tasche gelegen. Der Herr mit den korrekten Manieren hatte sich dann verabschiedet, ihn aber für den nächsten Morgen in die Stasihauptstelle vorgeladen. Dort hatte man ihm nahegelegt, sich durch seine Unterschrift als IM zu verpflichten und regelmäßig Berichte über seine Vereinskollegen an die Stasi zu übermitteln. Jeder im Verein wusste, wie gesagt, von Dieters Verbindungen zur Stasi und nahm sich entsprechend in Acht. Wenn Dieter aufkreuzte, verstummten die Gespräche oder das Thema wurde gewechselt. Allerdings war es selten genug, dass man über einen Stasispitzel Bescheid wusste. Die Methoden dieser "Horch und Guck"-Behörde waren im Allgemeinen sehr subtil und man wusste nicht, wer im Bekanntenkreis vielleicht ein Spitzel war, der es an die Stasi meldete, wenn man etwa abfällig von der Partei oder der Staatsführung sprach oder wenn jemand Westkontakte hatte. Selbst in den Familien gab es Spitzel und auch Kinder wurden in der FDJ dazu angehalten, innerhalb ihrer Familien wachsam zu sein und auf Staatsfeinde aufzupassen.

      Jetzt war das ganze System der DDR zusammengebrochen. Der "Klassenfeind" hatte die Regierung übernommen, überall waren jetzt "Demokratie" und "Freiheit" ausgebrochen. Sie lebten jetzt in einem Rechtsstaat. Was sollte aus einem Mann wie Dieter werden? War er denn wirklich schuldig? Er war doch erpresst worden und hatte sich nur für seine Familie anwerben lassen. Man sprach jetzt schon von einer neuen großen Behörde, die alle beschlagnahmten Stasiunterlagen auswerten sollte. In den Tagen der Wende hatten ja die Menschen an vielen Orten die Stasizentralen gestürmt und große Mengen an Akten und Unterlagen sichergestellt. Alles konnten die Stasimitarbeiter nicht mehr schreddern und selbst zerschnippelte Akten konnten wieder zusammengesetzt werden. Die neue wiedervereinigte Bundesrepublik war überwiegend der Meinung, dass die Stasivergangenheit aufgearbeitet werden müsste. Einige Stimmen meinten, dass man die schlimme Vergangenheit zu Gunsten eines Neuanfangs vergessen sollte. Aber diese Meinung konnte sich nicht durchsetzen. Zu schlimm waren die Wunden, die der Unrechtsstaat DDR vielen Mitbürgern zugefügt hatte und dieser Staat hatte zu viele willige Helfer, deren Schuld offengelegt werden musste.

      Ralf meinte: „ich möchte wissen, ob einer meiner Freunde oder Arbeitskollegen mich an die Stasi verraten hat. Ich möchte auch den Umfang dieser Spitzelei kennen lernen und ob unser Staat wirklich, wie es heute in den Medien heißt, durch und durch ein Spitzelstaat war. Ich möchte auch wissen, ob die Leute an der Staatsspitze und an der Parteispitze die Idee des Sozialismus wirklich nur benutzt haben, um uns dumm zu halten und ob sie in Wirklichkeit nur der bolschewistischen Idee der Weltrevolution, also dem Weltmachtstreben Russlands gedient haben. Ich möchte auch wissen, ob sie selbst in Saus und Braus in diesem abgeschirmten Dorf mit Namen Wandlitz mit westlichem Luxus, den sie sich mit Devisen beschafft haben, ein Luxusleben geführt haben, während sie uns den genügsamen Sozialismus gepredigt haben ,uns erzählt haben, dass wir für eine bessere Welt auf vieles verzichten müssten."

      „Ja, ich möchte das alles auch wissen", sagte Gerd, „ich möchte es wissen, obwohl damit für mich eine Welt zusammenbricht. Alles zusammenbricht, wofür wir seit unserer Kindheit gelebt haben, woran wir geglaubt haben. Was waren das doch für schöne Zeiten, als wir an eine bessere Welt geglaubt hatten, die durch den Sozialismus, durch unsere Anstrengungen entstehen würde. Was war das für ein schönes Gefühl, in dem Bewusstsein zu leben, dass wir auf der richtigen Seite stünden. Wir verzichteten gerne auf die sogenannten westlichen Freiheiten und den Überfluss. Wir wussten ja, dass das Alles mit dem Blut der unterdrückten Massen erkauft war, dass im Kapitalismus nur die reichen Ausbeuter gut lebten, während die Arbeiter-und Bauernklasse ein miserables Leben führen musste. Wir aber würden ihnen durch unseren Kampf die Freiheit vom Joch des Kapitalismus bringen.

      Heute wird uns gesagt, dass der Sozialismus in Wahrheit ein Staatskapitalismus ist. Die Parteifunktionäre sind die Kapitalisten dieses Systems und ihre Hauptsorge ist es, das Volk immer dumm zu halten, dass es den Betrug an seinem Idealismus nicht merkt.

      Und jetzt ist das ganze sozialistische System in sich zusammengebrochen, einfach deshalb, weil die sozialistischen Staaten pleite sind. Es ließ sich nicht mehr länger verheimlichen, dass die von den kapitalistischen Vorgängern in der Revolution übernommenen Produktionsmittel aufgebraucht sind. Der bescheidene Wohlstand in den sozialistischen Staaten war zum größten Teil nur geborgt. Die eigene Leistung war nicht ausreichend, den Verbrauch an