Über dieses Buch
In den Jahren 1990/91 wird ein großer ehemals „volkseigener“ Betrieb privatisiert. Dabei bereichert sich ein Betrüger auf skrupellose Weise. Der Buchhalter, der den Betrug entdeckt, gerät selbst auf die schiefe Bahn. Er entführt und foltert den Betrüger. Eine unmoralische Geschichte über das Thema: Gelegenheit macht Diebe.
Der Autor
Gerhard Haustein wurde im Jahr 1928 in Offenbach am Main geboren. Er arbeitete in den Jahren 1990 bis 1997 in den Neuen Bundesländern als freiberuflicher Wirtschaftsprüfer. Heute lebt er in Dresden.
Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Impressum
Der Buchhalter - Eine Geschichte aus der Wendezeit
Gerhard Haustein
Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2012 Gerhard Haustein ISBN: 978-3-8442-3929-4
Vorbemerkung
Selten in der Geschichte Deutschlands gab es Gelegenheiten wie diese, schnell und fast risikolos, große Vermögen zu machen.
Eine der reichsten Nationen der Erde sah sich vor der Aufgabe, eine nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft wirtschaftlich zurückgebliebene Region, die ihr nach vierzigjähriger Trennung wieder zugefallen war, zu integrieren und ihre etwa 12000 Betriebe auf den neuesten Stand westlicher Technik und Betriebswirtschaft zu bringen. Alles musste aus politischen Gründen, nach Ansicht der herrschenden Regierung, so schnell wie möglich gehen. Jährlich wurden für die Sanierung der maroden Betriebe bis zu 150 Milliarden ausgegeben. Zunächst hatte man die Hoffnung, dass mit dieser überaus großzügigen Anschubfinanzierung nach den Gesetzen der Marktwirtschaft sehr schnell moderne, konkurrenzfähige Unternehmen entstehen würden. Im Laufe des Jahres 1990 stellte sich jedoch bald heraus, dass die Betriebe alle in einem viel katastrophaleren Zustand waren, als es sich irgendjemand in Westdeutschland vorstellen konnte.
Dennoch wurden die Milliarden weiter ausgeschüttet, in der puren Verzweiflung, dass man keinen besseren Weg wusste. Für eine vernünftige Planung der Aufwendungen und Investitionen sowie für die normalerweise übliche Prüfung und Kontrolle war kaum Zeit. Die Milliarden wurden quasi nach dem Gießkannenprinzip über die Region ausgegossen. Aktionismus war die Parole.
Kein Wunder, dass viele Milliarden auf unfruchtbaren Boden fielen oder von trickreichen Geschäftemachern oder Betrügern abgefangen wurden, bevor sie den Boden, für den sie bestimmt waren, überhaupt erreichten.
Erstes Hauptstück : Der Buchhalter
Selbstmord
Die Revolution in der DDR war unblutig verlaufen. Ein Wunder! Niemand innerhalb der Staatsführung, der Parteiführung und des Staatssicherheits-dienstes hatte es gewagt, den Schießbefehl zu geben. Natürlich hatte man sich mit den Genossen in der Sowjetunion abgestimmt. Dort herrschten Glasnost und Perestroika, man wusste dort, dass der Sozialismus gescheitert war. Gorbatschow hatte bei seinem letzten Besuch in Berlin gesagt: " Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."
Wenn die Revolution auch ohne Gewalt und öffentliches Blutvergießen abgelaufen war, so spielten sich doch im persönlichen und privaten Bereich viele Dramen ab. Viele Funktionäre des Regimes sahen für sich keine Zukunft mehr oder hatten Angst vor Rache oder waren einfach verzweifelt wegen des Zusammenbruchs ihres Lebensgebäudes und brachten sich um. Aber auch einfache Menschen, die keinerlei Schuld auf sich geladen hatten, verzweifelten und machten ihrem Leben ein Ende.
Bruno Handtke stand in seinem Keller auf dem Werkstattisch. Er hatte eine Schlinge um den Hals. Es war eine Ziehschlinge und das andere Ende des starken Seils war mit doppeltem Knoten über ihm an dem Eisenträger, der unterhalb der Kellerdecke verlief, festgebunden. Er hatte sich so weit an den Tischrand gestellt, dass er den Tisch mit einem Stoß seiner Füße umwerfen konnte. Sein Entschluss stand fest. Gestern war er entlassen worden. Die Schraubenfabrik hatte keine Arbeit mehr für ihn. Insgesamt waren seit der Wende mehr als 4000 Kollegen und Kolleginnen " freigesetzt" worden. Für ihn war die Schraubenfabrik das ganze Leben. Mit 15 hatte er vor 40 Jahren als Lehrling in der Schlosserei angefangen und hatte dann viele Jahre an einer Drehbank gearbeitet. Bis zum Vorarbeiter hatte er es gebracht. Seine Gruppe hatte immer das von der Partei vorgegebene Soll übererfüllt. Als einer der"Schraubenfabriker" war er in der ganzen Stadt anerkannt und geachtet. Jetzt war das Alles zu Ende. Aber der Verlust seines Arbeitsplatzes war eigentlich nur der ausschlaggebende Schlusspunkt nach vielen Verlusten und Enttäuschungen.
Viel schlimmer war der Zusammenbruch des Sozialismus, seiner Weltanschauung. Er hatte keine andere Weltanschauung, keine Religion oder Philosophie. Jeder Mensch braucht Etwas, woran er sich klammern kann in dem Auf und Ab seiner Lebensgeschichte. Die Religion, nach deren Glaubenssätzen sich die Mehrheit der Menschen in der Welt ausrichtet, hatte man ihm genommen. Die DDR-Führung wollte, ebenso wie alle anderen sozialistischen Gesellschafts-ordnungen, keine Religion, die war ihnen lästig oder sogar gefährlich. Die Leute sollten an den Sozialismus glauben, das genügte. Man berief sich auf Hegel und Marx und machte die Religion lächerlich.
Aber da war noch was Anderes. Sein Intimleben stimmte nicht mehr. Er war immer ein glücklicher und treuer Ehemann gewesen. Seine Herta gab ihm Alles, was er auf diesem Sektor brauchte. Das hatte sich seit einiger Zeit geändert. Seine Frau übte keine Anziehung mehr auf ihn aus, er hatte keine Lust mehr nach ihr. Manchmal versuchte er noch, das alte Feuer in sich zu entfachen, aber er merkte, dass auch seine Frau nicht mehr bei der Sache war. Also ließ er es ganz und lebte über lange Strecken wie ein Mönch. Damit war ein wichtiger Teil seiner Lebensfreude, vielleicht sogar der Wichtigste, weg-gefallen. Also, wofür lebte er noch? Seine drei Kinder waren schon seit Langem aus dem Haus und gingen ihre eigenen Wege, ab und zu ließen sie sich anstandshalber bei ihren Eltern blicken, aber mehr war auch nicht.
Nun kam seit etwa einem Jahr noch Etwas dazu, womit er überhaupt nicht fertig wurde: Er konnte nicht mehr richtig Wasser lassen, seine Prostata hatte sich vergrößert. Wohl oder übel hatte er sich der Vorsorgeuntersuchung unterzogen. Der Urologe hatte auf „hinterlistige“ Weise seine Prostata abge-tastet und ihm eröffnet, dass sie so groß sei wie ein Apfel. Eigentlich sollte sie nur Walnussgröße haben. Der große Apfel drückte seine Harnröhre zusammen, so dass der Urin nicht mehr richtig aus der Blase abfließen konnte. Seine Blase wurde niemals richtig leer. Daraus folgte dann das häufige nächtliche Aufstehen, um wenigstens den Überdruck loszuwerden. Der Arzt hatte ihm gesagt, dass er das nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfe, weil sich möglicherweise der Urin bis hinauf in die Nieren stauen könnte und dann käme es zu einer gefährlichen Nierenentzündung. Also musste er sich operieren lassen. Der Arzt meinte zwar, dass eine solche Operation nichts Besonderes sei und erklärte ihm, wie der Urologe den größten Teil der Prostata durch die Harnröhre entfernen würde. Vorher würde ein Katheder in die Harnröhre gelegt, damit der Urin abfließen könnte. Er habe schließlich keinen Prostatakrebs und die kleine Operation würde ihn anschließend in keiner Weise beeinträchtigen. Die sexuellen Funktionen blieben erhalten und auch der Schließmuskel würde nicht verletzt. Natürlich wären auch schon Komplikationen aufgetreten, das könne man bei einer Operation ja nie ausschließen. Deshalb müsste er vor der Operation eine Erklärung unterschreiben, dass man ihn über etwaige Risiken aufgeklärt habe.
Das Alles würde er nicht mitmachen. Die Vorstellung allein ließ ihn fast verrückt werden. Da wollte er sich lieber umbringen. Was war denn auch so schlimm daran, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Sterben musste man sowieso, irgendwann musste man das über sich ergehen lassen, und das Sterben konnte ganz schön schlimm sein. Mit einer doppelseitigen Lungenentzündung etwa, tagelang unter stärksten Schmerzen nach dem bisschen Luft ringen oder vielleicht jahrelang nach einem Schlaganfall total von anderen Menschen abhängig zu sein. Was war denn so schlimm an der kurzen Spanne, die ihn vom Tod trennte. Er hatte sich für den Strick entschieden. Das würde nicht viel länger als eine Minute