„ Mein lieber Mann“, meinte Ralf Baumann, „Du bist ja der reinste Philosoph. Du weißt, wie es in der Welt zugeht und machst Dir keine Illusionen. Kannst Du mir auch sagen, was das Alles für uns bedeutet? Was bedeutet das für mich? Du hast Glück, Du bist bei der Polizei gut aufgehoben und brauchst wahrscheinlich keine Angst zu haben, dass Du demnächst arbeitslos wirst. Bei mir ist das anders. Mein Betrieb wird demnächst privatisiert. Ein reicher Schweizer wird sich das ganze Unternehmen unter den Nagel reißen und ich bin sicher, dass eine ganze Menge Kollegen und Kolleginnen auf die Straße fliegen, "freisetzen" nennt man das heute."
„Nach meiner Philosophie, wie Du das nennst, musst Du versuchen, Dich in dem Unternehmen unentbehrlich zu machen und gute Kontakte zu dem neuen Boss anknüpfen. Ich weiß, dass Du ein Fachmann auf dem Gebiet der Buchhaltung bist. Solche Leute wie Dich wird auch der neue Eigentümer brauchen. Halte Augen und Ohren offen!"
Das hatte Ralf Baumann ohnehin vor. Er wusste, dass er sich im kapitalistischen Haifischbecken behaupten musste. Sie waren inzwischen vor dem Plattenbau angekommen, in dem er wohnte, sein Freund wohnte ganz in der Nähe. Sie wünschten sich „Gute Nacht" und schüttelten sich die Hand.
Erste Kontakte mit Wessis
Ralf Baumann erinnerte sich noch deutlich an seine ersten Kontakte mit den bis dahin unbekannten Wessis. Am 9.11.1989 war die Mauer gefallen. Auch er hatte das Wunder miterlebt. Man konnte die Staatsgrenze der DDR Richtung Westen passieren, ohne erschossen zu werden.
Die Volkspolizisten an der Grenze wusste nicht so recht, wie sie sich benehmen sollten, verlegen standen sie in kleinen Gruppen zusammen und sahen zu, wie die Bevölkerung des Arbeiter-und Bauernstaates im Trabi oder Wartburg winkend an ihnen vorbeifuhr und nach einigen Metern auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von dem Klassenfeind jubelnd begrüßt wurde.
An einem der nächsten Tage war er mit seiner Frau und den Kindern nach Coburg gefahren und hatte dort sein Begrüssungsgeld, harte D-Mark, in Empfang genommen. Die Kinder bekamen ein Eis, die Frau ein Päckchen Kaffee und er kaufte sich ein paar westdeutsche Zeitschriften. Drei Kilo Bananen wurden mit nach Gera genommen.
In den nächsten Wochen kamen dann die Westdeutschen in ihren schicken Wagen, aßen in den Restaurants zu Mittag, tranken viel Bier und kauften kiloweise Zervelatwurst, die sie mitnahmen. Sie bezahlten mit Mark der DDR, die sie 20 zu eins gegen ihre DM getauscht hatten. Man konnte es ihnen nicht übel nehmen, dass sie die Situation ausnutzten. Andererseits war es für die Ossis, die Menschen aus der DDR, schon ein komisches Gefühl, all die wohlhabenden und gutgekleideten Leute um sich zu sehen, wenn man selbst aus dem armen Teil Deutschlands stammte. Sie waren offensichtlich die armen Verwandten. Ja, sie waren durch den Sozialismus betrogen worden. Was hätte er aus seinem Leben machen können, wenn er im Westen gelebt hätte. Er hatte ja die DDR in ihrer 40-jährigen Laufzeit miterlebt. Am Ende des 2. Weltkrieges war er 5 Jahre alt gewesen und er kannte nichts Anderes als die sozialistische Gesellschaft. Schon als Kind wurde ihm in der Schule und in der FDJ eingeredet, dass der Westen dekadent ist, dass die armen Menschen dort ausgebeutet würden und dass der scheinbare Wohlstand des Westens auf Sand gebaut sei. Der Sozialismus würde bald die vom Kapitalismus geknechteten Völker befreien. Mit diesem Bewusstsein hatte er die 40 Jahre in der DDR mit ihrer Mangelwirtschaft ertragen.
Jetzt konnten sie die „unterdrückten“ Menschen mit eigenen Augen sehen. Die Wiedervereinigung hatte ihnen die Augen geöffnet und jetzt mussten sie zusehen, wie sie mit der neuen Situation fertig würden. Jeder für sich.
Die Schraubenfabrik hatte produziert und andere DDR-Betriebe sowie Betriebe in den anderen sozialistischen Bruderländern beliefert, die ihrerseits produzierten und ihre Produkte mit den Schrauben der Schraubenfabrik Gera zusammen schraubten.
Als dann am 1.7.1990 die DM kam, wurde sehr bald offenbar, dass die Schraubenfabrik Gera auf ihren Schrauben sitzen bleiben würde, ebenso wie die sozialistischen Freunde auf ihren zusammengeschraubten Produkten. Kein Mensch im Westen wollte ihre Produkte für gute DM kaufen und die Absatzmärkte im Ostblock waren ebenfalls zusammen-gebrochen. Die volkseigenen Betriebe blieben also auf ihren Produkten sitzen. Die im Umtausch 2: 1 erworbenen DM-Guthaben allerdings fanden reißenden Absatz. Lieferanten aus dem Westen gaben sich die Türklinke in die Hand. Die ehemaligen volkseigenen Betriebe hatten Geld, das begriffen die Wessis sehr schnell, und das Geld saß locker. Durch die günstige Umtauschrate, die von der Bundesregierung in der ersten Begeisterung festgesetzt worden war, schwammen die Betriebe gewissermaßen in DM. Sie konnten es kaum glauben, was ihnen plötzlich alles angeboten wurde. Die kommissarischen Geschäftsführer kauften für den Betrieb freudig erregt viele Dinge, die sie bisher nicht kaufen konnten. Auch Berater kamen aus dem Westen und erzählten ihnen vom „Break-even-point“, von Marktforschung und Marktanalyse, von “learning by doing“, vom Niederstwertprinzip und von den Geheimnissen der Rückstellungsbildung. Begeistert erteilten die Geschäftsführer Aufträge an Unternehmensberater und Wirtschaftsprüfer, damit ihr Betrieb möglichst bald in der westlichen Welt konkurrenzfähig würde. Die Unternehmensberater erstellten Unternehmenskonzepte und fertigten Gutachten, die Wirtschaftsprüfer halfen bei der Erstellung der DM- Eröffnungsbilanz und erteilten dann ihren Bestätigungsvermerk. Ralf Baumann interessierte sich für alles, was mit der Marktwirtschaft zusammenhing. Er saugte das neue Wissen begierig auf. Die Wirtschaft und der Staat der DDR hatten Schiffbruch erlitten, ebenso wie die Systeme der anderen sozialistischen Staaten. Die Wirtschaft der westlichen Welt, insbesondere die der Bundesrepublik, strotzte vor Gesundheit. Also musste alles was er bisher gelernt hatte, falsch und alles was die westlichen Berater an Know-how mitbrachten, richtig sein. Es gab fast täglich Schulungen im Betrieb mit einem „Besserwessi" auf dem Podium und eifrig zuhörenden und mitschreibenden „Ossis“ als Kursteilnehmer.
Ralf Baumann ließ sich von einem der Kursleiter, einem Wirtschaftsprüfer aus Frankfurt am Main, Fachbücher über Bilanzierung und Kostenrechnung mitbringen, die er in jeder freien Stunde studierte.
In den ersten Monaten nach Einführung der D-Mark wurde der Betrieb praktisch durch die Treuhandanstalt geleitet. Das zuständige Direktorat in Berlin hatte den bisherigen Betriebsdirektor zum kommissarischen Geschäftsführer und den bisherigen kaufmännischen Leiter zum Hauptbuchhalter ernannt. Dann kamen die Experten der Treuhandanstalt und prüften, ob der Betrieb sanierungsfähig sei. Die klugen jungen Leute kamen aus den Bereichen Unternehmensberatung und Wirtschaftsprüfung, sie verwendeten Formblätter für Planungsrechnungen und betriebswirtschaftliche Kennziffern.
Der Geschäftsführer beauftragte Ralf Baumann, den Prüfern für Rückfragen zur Verfügung zu stehen. Nachdem sie ihre Arbeiten vor Ort beendet hatten und wieder nach Berlin zurückgekehrt waren, musste Ralf Baumann mehrfach nach Berlin fahren, um ihnen vor der endgültigen Berichtsabfassung noch zu weiteren Fragen Auskünfte zu erteilen.
Es war eine aufregende Zeit. Die Tätigkeit der Berliner Prüfer hatte sich im Betrieb herumgesprochen und alle warteten auf das Urteil. Sollte der Betrieb als nicht sanierungsfähig eingestuft werden, so folgte unmittelbar die Liquidation. Das ging formlos, da das Unternehmen keine Rechtsform nach deutschem Handelsrecht hatte. Der Betrieb wurde einfach still gelegt, alle Beschäftigten wurden entlassen.
Sollte der Betrieb nach Meinung der Treuhandanstalt sanierungsfähig sein, dann wurde der Betrieb in eine GmbH umgewandelt und es begann die Suche nach einem „Privatisierer“. Das waren Westdeutsche oder Ausländer, die sich bei der Treuhandanstalt als Interessenten gemeldet hatten. Sie bekamen ein fünfbändiges Kompendium mit