Der Buchhalter. Gerhard Haustein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Haustein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844239294
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ist, dann erfuhren sie, warum die zentrale Planwirtschaft der freien Marktwirtschaft überlegen ist und dass die Planwirtschaft der Bevölkerung ein besseres Leben geben kann, schließlich lernten sie auch noch, wie man mit den Instrumenten des Rechnungswesens und der Statistik dafür sorgen kann, dass die staatlichen Wirtschaftspläne erfüllt oder möglichst übererfüllt würden.

      Aus dieser Schule kam Ralf Baumann, der stellvertretende Hauptbuchhalter.

      Ralf Baumann hatte nach seinem Studium in verschiedenen Betrieben im Bereich des Rechnungswesens gearbeitet und es schließlich im VEB Schraubenfabrik Clara Zetkin, der wiederum zum Kombinat „Schrauben und Fittings“ gehörte, zum stellvertretenden Hauptbuchhalter gebracht.

      In dem VEB fühlte er sich wohl. Er hatte nette Kollegen und unproblematische Mitarbeiter. Zwar war ihm, als kritischem Geist, klar, dass ein VEB, also ein „Volkseigener Betrieb“ keineswegs dem Volk gehörte. Ausschließlich die SED, die Staatspartei, bestimmte über Wohl und Wehe aller Betriebe in der DDR.

      Ihm war schon lange aufgefallen, dass die Namen umso mehr von schönen Adjektiven verbrämt waren, je weniger sie von diesen Eigenschaften wirklich erfüllt waren. Das fing schon mit der Deutschen Demokratischen Republik an. Demokratisch war sein Land bestimmt nicht. Auch die Jugendorganisation hieß ja FDJ, Freie Deutsche Jugend, aber die Mitgliedschaft war keinesfalls freiwillig, sie war für jeden jungen Menschen praktisch Pflicht, wenn er nicht von Allem ausgeschlossen sein wollte und auf seine weiteren Ausbildungschancen wie z.B. Universitätszugang verzichten wollte.

      So verbrachte Ralf Baumann seine Zeit in der FDJ, hielt seinen Mund und machte mit. Natürlich machte es auch Spaß mit dazuzugehören, kein Außenseiter zu sein. Alle seine Schul-freunde waren natürlich auch in der FDJ. Am Vormittag war man in der Schule zusammen, an Nachmittagen trat man häufig gemeinsam zum Dienst bei der FDJ an. Die verschiedenen Gruppen hatten einen strammen "Gruppenleiter", der die Autorität der SED hinter sich hatte. Aber die Heimabende mit Singen und Spielen, die Freizeitaktivitäten, die Geländespiele, waren doch sehr schön.

      Am 9.November 1989 war dann die Mauer gefallen und am 3.Oktober 1990 war die DDR der Bundesrepublik Deutschland beigetreten. Alle Menschen der ehemaligen DDR verloren zunächst den Boden unter den Füßen. Vor allem wurde die berufliche Existenz für fast Jeden in Frage gestellt. Der größte Teil der Menschen war in einem volkseigenen Betrieb beschäftigt gewesen. Was würde nun aus diesen, meist in der Substanz veralteten und ausschließlich für das sozialistische Lager produzierenden Betrieben, werden?

      Ralf Baumann blieb nach der sogenannten Wende zunächst auf seinem Posten, da seine Kenntnis aller betrieblichen Bereiche bei der Aufstellung der D-Mark-Eröffnungsbilanz dringend benötigt wurde, zumal der Hauptbuchhalter, als Parteimensch, auf Veranlassung der Treuhandanstalt sofort entlassen worden war.

      Die DM-Eröffnungsbilanz wurde durch ein spezielles Gesetz eingeführt. Die letzte Bilanz der volkseigenen Betriebe war natürlich nach den Gesetzen der DDR aufgestellt worden. Die Bewertung der Vermögensgegenstände und Schulden der Betriebe waren in den Bilanzen in Mark der DDR aufgeführt und ergaben sich aus der 40-jährigen Bewertungspraxis der sozialistischen Planwirtschaft. Wollte man wissen, inwieweit diese Bewertungen den Bilanzgesetzen der Bundesrepublik Deutschland, der die DDR ja beigetreten war, entsprachen, so musste man jeden einzelnen Bilanzposten auf der Aktivseite und der Passivseite der Bilanz neu bewerten und zwar nach den Regeln des westdeutschen Handelsgesetzbuches. Aufgrund dieser Neubewertung ergab sich die DM-Eröffnungsbilanz zum 1.7.1990. Auf dieser Bilanz aufbauend, sollten dann die jeweiligen Jahresbilanzen fortgeführt werden.

      Zunächst aber ergab sich für die meisten ehemaligen volkseigenen Betriebe ein Schock: viele Betriebe waren aufgrund der neuen realistischen Bewertung total überschuldet. So war es auch bei den Schraubenwerken, bei denen Ralf Baumann als stellvertretender Hauptbuchhalter beschäftigt war. Er hatte den westdeutschen Wirtschafts-prüfern, die mit der Erstellung und Testierung der DM-Eröffnungsbilanzen beauftragt waren, durch seine Kenntnis der DDR-Bilanzen wertvolle Dienste geleistet.

      Auf der Basis der DM-Eröffnungsbilanz konnte die Treuhandanstalt nun über das weitere Schicksal der Unternehmen entscheiden. Viele Betriebe wurden liquidiert, weil nach den vorliegenden Zahlen und den Berechnungen der Treuhandanstalt keine Aussicht für das Unternehmen bestand, in absehbarer Zeit wettbewerbsfähig zu werden. Andere Unternehmen wurden als "privatisierungsfähig" eingestuft und damit in die Gruppe von Unternehmen eingereiht, für die der deutsche Staat alle erdenklichen Mittel bereitgestellt hatte, um das Unternehmen und damit die Arbeitsplätze wettbewerbsfähig zu machen und damit zu erhalten. Die Treuhandanstalt wandelte die meisten dieser Unternehmen in eine GmbH um und begann damit, den sogenannten "Privatisierer" zu suchen.

      Im Laufe der Bemühungen zur Privatisierung der Schraubenfabrik, die inzwischen auch in eine GmbH umgewandelt worden war, wurden auch die verschiedenen Bereiche des Rechnungswesens neu besetzt .Die Wahl für den Posten des Hauptbuchhalters fiel nicht auf Ralf Baumann. So kam es, dass er schließlich in der Kontokorrentbuchhaltung für die Führung der Lieferantenkonten verantwortlich war. Für ihn als bilanzsicherer Buchhalter und Fachmann für die Kostenrechnung war diese einfache Tätigkeit eigentlich eine Beleidigung, andererseits musste er froh sein, dass er nicht zu den vielen Entlassenen gehörte.

      Über seinen Tisch liefen alle eingehenden Rechnungen über gelieferte Roh-Hilfs-und Betriebsstoffe, die für die Produktion eingekauft werden mussten. Aber auch die Rechnungen über die Lieferung oder den Bau von Anlagegegenständen, also die Rechnungen von Baufirmen über den Bau von Betriebsgebäuden, die Rechnungen über die Lieferung von Maschinen und maschinellen Anlagen sowie von Dienstleistungen, wie zum Beispiel Beratungen und Gutachten.

      Die eingehende Post wurde in der Poststelle geöffnet und mit dem Eingangsstempel versehen. Er versah alle Rechnungen zuerst mit dem Stempel „sachlich und rechnerisch richtig“, dann brachte er den Kontierungsstempel an und trug die Kontierung ein, das heißt er legte fest, auf welche Konten und Kostenstellen die Rechnung zu buchen war. Bevor er die Rechnung über seinen PC in das System der Finanzbuchhaltung eingeben konnte, prüfte er alle Angaben, die in der Rechnung enthalten waren, auf ihre formelle und rechnerische Richtigkeit.

      Dann schickte er, nachdem er eine Kopie in einem Ordner „unterwegs befindliche Rechnungen" abgelegt hatte, die Originalrechnung an die Abteilung, die den Eingang „sachlich richtig" zu bestätigen hatte, also an das Baubüro, die Warenannahme oder den technischen Betriebsleiter. Wenn die Rechnungen, mit den Kontroll-und Richtigkeitsvermerken und Handzeichen versehen, nach einigen Tagen wieder zurückkamen, konnte er sie verbuchen, das heißt den Rechnungsbetrag dem Lieferanten auf dessen Kontokorrentkonto gutschreiben und gleichzeitig das Sachkonto für den Waren-oder Leistungseingang belasten. Aktivierungsfähige Anschaffungen im Anlagenbereich wurden dem entsprechenden Gebäude-, Maschinen-oder sonstigen Anlagenkonto belastet. Danach wurde die Originalrechnung mit dem Prüfungsvermerk und seinem Handzeichen versehen unter laufender Nummer im Ordner "Eingangsrechnungen" abgelegt.

      Als nächstes musste sich Ralf Baumann darum kümmern, dass die Rechnung bezahlt würde. Er überwachte die Fälligkeiten unter etwaiger Ausnutzung der Skontofrist, schrieb die Banküberweisung aus und legte diese der Geschäftsleitung zur Unterschrift vor. Unterschrieben wurde der Überweisungsträger vom Leiter des Rechnungswesens, einem Prokuristen und dem Geschäftsführer. In der Unterschriftsmappe musste zu den Überweisungsträgern die jeweilige Originalrechnung beigelegt werden, so dass die Zeichnungsberechtigten nochmals die sachliche Richtigkeit prüfen konnten. Der Prokurist unterschrieb als Erster rechts und legte damit fest, welche Rechnungen im Rahmen der jeweils vorhandenen Liquidität bezahlt werden konnten. Er hatte den Überblick über sämtliche Bankkonten, die zu erwartenden Geldeingänge und fälligen Verpflichtungen. Ein Mitarbeiter aus der Finanzbuchhaltung legte ihm täglich einen Liquiditätsstatus vor, der mit dem monatlichen Cashflow-Budget laufend abgestimmt wurde.

      Ralf Baumann hatte zwar keinen sehr verantwortungsvollen Posten, aber doch in seinem Bereich einen vollständigen Überblick über den Geldabfluss aus dem Unternehmen an Dritte. Es wird sich zeigen, was er daraus machte.

      Er verfolgte die Entwicklung sehr aufmerksam. Da er einen guten Draht zum kommissarischen Geschäftsführer hatte, war er über die