Der Buchhalter. Gerhard Haustein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard Haustein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844239294
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die Treuhandanstalt würde den Betrieb liquidieren.

      Als vor sechs Monaten der erste Privatisierungsinteressent von der Treuhandanstalt geschickt wurde, war ihm ziemlich schnell klar, dass dieser Herr ein Hochstapler war. Er führte große Reden, hatte von Bilanzen keine Ahnung und seine Ideen, was die Absatzmärkte betraf, hatten weder Hand noch Fuß. Auch der zweite so genannte Privatisierer wurde von der Treuhandanstalt schnell wieder weggeschickt.

      Nun war also Herr Egger gekommen und hatte seit Wochen den Betrieb in allen Ecken durchleuchtet. Wenn er auch als Berater auftrat, so wurde es Ralf Baumann schnell klar, dass dieser Mann die Übernahme des Betriebs im Auge hatte. Und er konnte es Herrn Egger nicht verdenken, dass ihn die Chance, ein Großunternehmen in seinen Besitz zu bringen und über immense Fördermittel zu verfügen, außerordentlich reizte. Jeder denkende Mensch musste schnell erkennen, dass sich hier eine Lebenschance auftat, eine Chance, viel Geld in die Hand zu bekommen.

      Die Treuhandanstalt hatte die Schraubenwerke Gera also in eine GmbH umgewandelt, deren alleinige Gesellschafterin und Geschäftsführerin sie war. Sie wollte das Unternehmen natürlich nicht auf die Dauer selbst führen. Das konnte sie auch gar nicht, dazu fehlte ihr das Personal mit den nötigen unternehmerischen Qualifikationen. Sie war gewissermaßen eine Holding mit tausenden von Tochtergesellschaften. Alle diese Gesellschaften waren ohne aktives Geschäft. Alle mussten saniert werden. Und es war für die Treuhandanstalt sehr schwierig, „auf die Schnelle“ einen geeigneten Bewerber für die Übernahme zu finden. Ralf Baumann war neugierig, wie es jetzt weitergehen würde.

      Freundeskreis

      Sie trafen sich jede Woche, samstags um 19 Uhr, im Lokal des Fußball-Clubs. Zu DDR -Zeiten hieß der Club „BSG Turbine Gera" und gehörte der DDR -Liga an. Nach der Wende änderte sich der Name mehrmals und gehörte schließlich ab 1990 der Landesliga Thüringen als BSG Gera an.

      Ralf Baumann hatte in seinen jungen Jahren begeistert und mit Erfolg in der Juniorenmannschaft gespielt. Auch in der Studienzeit an der Uni Leipzig hatte er in der Universitätsmannschaft mitgespielt. Als jedoch die Examenszeit heranrückte, hörte er mit dem aktiven Sport auf, da er sich nicht verzetteln wollte. Sein Studienfach "Rechnungsführung und Statistik" beanspruchte seine ganze Kraft. Er war kein Überflieger, sondern musste mit Fleiß und Ausdauer hart arbeiten um die jeweiligen Semesterabschlüsse und Tests zu schaffen. Jetzt war er nur noch passives, aber treues und begeistertes Mitglied seines Sportvereins. Seine Passivität ging allerdings nicht so weit, dass er überhaupt keinen Sport mehr trieb. Vielmehr traf er sich mit seinen Freunden regelmäßig zum Jogging und Volleyball und hatte erst vor kurzem, als er 50 geworden war, das Deutsche Sportabzeichen erworben.

      An dem runden Tisch saßen die acht Freunde und tranken Bier. Vorher hatten sie eine Kleinigkeit zu Abend gegessen, Ralf Baumann hatte sich eine Thüringer Rostbratwurst mit Sauerkraut und Kartoffelpüree genehmigt. Das war ein deftiger Genuss. Die „Thüringer Röster“ unterschieden sich von allen anderen Bratwürsten im Heiligen Römischen Reich durch ihren ganz speziellen Geschmack, der hauptsächlich von den Gewürzen Majoran und Kümmel bestimmt war. Bei jedem Stück, das er sich in den Mund schob bedauerte er die übrige Welt, die nichts von diesem herrlichen Geschmack wusste. Jetzt unterhielten Sie sich über das nächste Spiel am kommenden Sonntag und über die Chancen, die die erste Mannschaft beim Spiel gegen Hildburghausen hatte.

      Neben ihm saß sein bester Freund Gerd. Dessen Frau, Gisela, war seit langer Zeit eine Busenfreundin seiner Frau Erika. Die beiden hingen als Mädchen ständig zusammen. Sie hatten sich in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) kennengelernt und waren längere Zeit in derselben Jugendbrigade. Später waren sie dann gemeinsam in die „Gesellschaft für Sport und Technik“ eingetreten, weil sie sich beide für Bogenschießen interessierten. Dort hatten sie ihre späteren Männer kennengelernt.

      Sein Freund Gerd, der wie immer das große Wort führte, war wieder mal in Rage geraten. „Was meint ihr denn, warum die Fußballvereine im Westen besser sind als unsere Vereine im Osten? Wenn wir mal ein Freundschaftsspiel gegen einen Verein aus Westdeutschland machen, verlieren wir doch immer haushoch. Und so geht es allen ostdeutschen Vereinen. Das liegt doch nur da dran, dass die Westdeutschen sich die besten Spieler aus aller Welt zusammenkaufen. Das ist doch kein Sport mehr. Nur das Geld regiert den Fußball. Ob Du in die Bundesliga oder irgendeine andere Liga schaust, Du findest in den Vereinen nur noch Ausländer: Italiener, Spanier, Jugoslawen, Schwarzafrikaner und so weiter. Die werden für viel Geld eingekauft und bekommen phantastische Gehälter. Ich finde, das ist eine Schweinerei und hat mit Sport, so wie wir ihn kennen, nichts mehr zu tun. Da kommen die reichen Kapitalisten, geben dem Verein für den Spielereinkauf Millionen und lassen sich zum Präsidenten wählen. Das ist im Westen beim Sport wie in der Politik. Nur das Geld zählt. Wer die meiste Kohle hat, gewinnt. Mir gefällt das nicht."

      „Ja, Gerd“, rief Klaus von der anderen Seite des Tisches, „mir gefällt das auch nicht. Aber wir wollten ja den Kapitalismus, weil wir alle vom Sozialismus die Nase gestrichen voll hatten. Wir haben A gesagt, jetzt müssen wir auch B sagen. Was meinst Du, was aus unseren Vereinen wird, wenn wir uns nicht anpassen und bei dem Rennen mitmachen. Du siehst, unsere Spitzensportler haben zum großen Teil schon rüber gemacht. Sie verdienen in Westdeutschland, Italien oder England schon enormes Geld. Wir verlieren alle guten Leute und werden in der Bedeutungslosigkeit versinken. Ich kann es den Spitzenleuten nicht einmal übelnehmen, dass sie sich an den Meistbietenden verkaufen."

      „Das System funktioniert nun mal über das Geld“, meinte Helmut, der inzwischen ein gut verdienender Versicherungsagent geworden war. „Ihr müsst doch zugeben, dass es Spaß macht, ein Bundesligaspiel oder ein Länderspiel mit lauter Spitzenspielern im Fernsehen anzuschauen. Je mehr Spitzenspieler ein Verein einkaufen kann, umso mehr kann er in der Tabelle nach vorn kommen, umso mehr Zuschauer wird er auf der Tribüne haben und umso mehr Geld bekommt er von den Fernsehanstalten für die Übertragungsrechte. Der Verein verdient, das Fernsehen verdient. Viele Zeitungen werden nur wegen ihres Sportteils gekauft. Früher durften wir Westfernsehen nicht gucken, wir wurden bestraft, wenn wir erwischt wurden. Heute können wir weltweit alles sehen und ihr müsst zugeben, dass es schöner ist, Arsenal London gegen Real Madrid spielen zu sehen, als früher zwei Mannschaften aus der DDR-Liga. Mir ist es ganz egal, wie viel ein Transfer gekostet hat und wie viel ein Mittelstürmer verdient. Ich will erstklassigen Fußball sehen.

      „Du hast gut reden", warf ein anderer Sportkamerad gutmütig ein. „Du verkaufst den Leuten Versicherungen, die sie nicht brauchen und lebst ganz gut dabei. Früher brauchten wir keine Versicherungen von großen Konzernen zu kaufen. Wir alle waren bestens abgesichert durch den sozialistischen Staat und die Volksgemeinschaft. Ein Arztbesuch kostete kaum etwas, der Krankenhausaufenthalt war kostenlos und für unser Alter war auch gesorgt. Lebensmittel, Kleidung, Strom und Heizung kosteten fast nichts und wir hatten von Allem reichlich."

      „Ja, aber wie wurde man von den Ärzten behandelt" erscholl ein Zwischenruf, „dass man nicht stramm stehen musste, war alles."

      Ein Anderer rief, „aber die Ärzte verdienten kaum mehr als ein Hilfsarbeiter in der Fabrik oder ein Bauer in der LPG. Das war doch gerecht."

      Ralf Baumann sagte, „Leute, Ihr habt ja alle Recht. Die Sache ist kompliziert, und wir werden noch oft darüber nachdenken und diskutieren müssen. Aber Eines wissen wir doch alle: der Sozialismus funktionierte nur mit Zwang und Kontrolle. Und das auch nur eine Weile. Deshalb wollten wir ja alle raus aus dem System. Und jetzt müssen wir damit fertig werden."

      Sie saßen noch eine Stunde zusammen bei Small Talk und Witze erzählen. Ralf Baumann unterhielt sich, angeregt durch die vorhergehende Diskussion, mit seinem Freund Gerd über die „alten Zeiten" in der Gesellschaft für Sport und Technik. Sie waren sich darüber einig, dass diese Organisation eine vormilitärische Einrichtung war, mit ihren Einrichtungen für Fliegen, Seefahrt, Motorfahrzeuge, Funkmeldewesen etc., ebenso wie die Hitlerjugend im Dritten Reich mit ihrer Flieger-HJ, Marine-HJ, Reiter- und Motorrad-HJ. Die DDR-Führung hatte nun mal die fixe Idee, dass die Bundesrepublik Deutschland, der Klassenfeind, nur darauf wartete, wann der richtige Moment für einen militärischen Überfall auf die friedliebende DDR gekommen war. Im Einklang mit „den Freunden", der Sowjetunion, musste man ständig aufrüsten