Manche Engel sterben früh. Margarete van Marvik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margarete van Marvik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741860119
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wissen aber die Jungs, die sie umschwärmen, nicht. Silke hat die gemeinsame Schule nach der vierten Klasse verlassen und geht jetzt auf eine weiterführende Schule. Ruth hat keinen Menschen mehr, dem sie sich anvertrauen kann, und wird zur absoluten Außenseiterin.

      Sie zieht sich mehr und mehr in ihr Schneckenhaus zurück. Auf dem Nachhauseweg versperren ihr die Jungs ihrer Klasse den Weg und lassen sie erst durch, wenn sie das Wegegeld von zehn bis fünfzig Pfennig bezahlt hat.

      Dann grölen die Kerle ihr hinterher: „Feuerlöscher, lösch mich.“

      Die Jungs sehen es als Vergeltung dafür, dass sie sich für keinen der Kerle aus ihrer Klasse interessiert.

      Alle Wetten, die sie untereinander abschließen, verlaufen im wahrsten Sinne des Wortes im Sand. Das ärgert die Jungs ungemein und sie fühlen sich in ihrem Ego verletzt und schreien dafür nach Rache.

      Nur in der Nacht, wenn auch Christin schläft, findet Ruth Ruhe und kann dem Alltag entfliehen.

      Unter ihrem Kopfkissen verbirgt sie eine kleine Taschenlampe, die sie von Silke zu ihrem elften Geburtstag geschenkt bekommen hat. Wenn die Schwester schläft, holt sie die kleine Lampe und eines ihrer Lieblingsbücher unter der Matratze hervor und fängt an zu lesen.

      Die Taschenlampe hält sie mit ihrem Mund, der mit den Zeilen wandert. Mit jeder gelesenen Seite taucht sie ab in die unendliche Welt der Bücher; in ein ihr noch zutiefst geheimnisvolles Reich, das sie mit jedem Mal mehr erforscht.

      Für ein paar Stunden taucht sie ein in das Treiben des Textes, der sie mild und heimisch, dicht und unablässig wie Schneeflocken umfängt.

      Dort hinein tritt sie mit grenzenlosem Vertrauen; eine Hand liegt beim Lesen immer auf einer Buchseite während die Abenteuer sie den Atem anhalten lassen.

      Ruth ist Nacht für Nacht in eines der Bücher, die Silke ihr regelmäßig aus der Bücherei vorbeibringt, versunken.

      So entflieht sie für einige Stunden ihrer frostigen und lieblosen Kindheit.

      Oft liest sie bis in die Morgenstunden.

      Die Batterien für die Taschenlampe bekommt sie von Silkes Mutter. Nach solchen durchgelesenen Nächten geht Ruth unausgeschlafen zur Schule.

      Den langen Schulweg von fast vier Kilometern muss sie nach wie vor zu Fuß gehen.

      Hin und wieder, wenn sie in ihren Gedanken versunken ist, vergisst sie schlichtweg den Schultornister zu Hause. An solchen Tagen wird es besonders schlimm für sie. Ihre Mitschüler lachen sie aus und zeigen mit dem Finger auf Ruth. Ab und an bekommt sie Hiebe mit dem Rohrstock über die ausgestreckte Hand. Ein grausamer Schmerz durchzieht sie jedes Mal, dennoch beißt sie sich auf die Lippen, damit kein Laut ihren Mund verlässt. Immer öfter schläft sie während des Unterrichtes ein, Strafarbeiten sind an der Tagesordnung. Ihre einzigen Verbündeten sind ihre Freundin Silke und deren Mutter. Dort findet sie während der Schuljahre Geborgenheit und Verständnis.

      Silkes Mutter behandelt sie wie ihre eigene Tochter.

      Die Kommunikation zwischen ihr und ihrer Mutter wird mit zunehmendem Alter komplizierter. Ruth bettelt regelrecht um ein wenig mehr Freizeit und um ein paar Groschen, damit sie sich die nötigsten Schulutensilien kaufen kann. Mitunter ist das Glück auf ihrer Seite und sie erwischt ihren Vater in den späten Abendstunden. In solchen Momenten steckt er ihr ab und an fünf Mark zu, damit sie sich die benötigten Schulsachen besorgen kann.

      Immer wenn sie ihrem Vater begegnet, wird sie melancholisch. Sie vermisst sein freundliches und aufmunterndes Lächeln so sehr. Sie vermisst die Streicheleinheiten, seine Heiterkeit und den Spaß, den sie die ersten Jahre ihrer Kindheit miteinander gehabt haben.

      Im Oktober 1956 hämmert Silke an Ruths Wohnungstür. Ruth öffnet erbost die Tür und will ein Donnerwetter vom Stapel lassen. Doch ihr bleiben buchstäblich die zurechtgelegten Worte, die sie auf der Zunge trägt, im Hals stecken.

      Völlig konfus, leichenblass und mit aufgerissenen Augen steht ihre Freundin vor ihr. So hat Ruth Silke noch nie erlebt!

      Entschlossen packt Ruth Silke am Arm und schiebt sie auf die andere Straßenseite. In diesem Augenblick ist es ihr egal, dass Christin allein in der Wohnung bleibt. Sie steuert die Bank unter ihrem Lieblingsbaum an. Tröstend legt sie ihr die Arme auf die Schultern, so wie es Silke immer tut, wenn es ihr schlecht geht. Ruth ahnt nicht im Leisesten, warum Silke so kopflos und gleichzeitig so zerstreut wirkt. Geduldig wartet sie, bis die Freundin ihren Kummer in Worte fassen kann.

      Unter Tränen stammelt diese: „Meine Mama ist nicht mehr bei mir, sie hat mich verlassen.“ Silke wird von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt, bevor sie weiterspricht. „Sie ist gestern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie ist mit ihren Stöckelschuhen und den Einkaufstaschen am Asphalt hängen geblieben. Sie ist gestolpert, als der Linienbus gerade um die Ecke gefahren ist. Der sofortige Bremsversuch ist gescheitert und sie geriet unter die wuchtigen Räder und blieb einfach reglos liegen.“

      Silke macht eine Pause, um das Unsagbare selbst zu begreifen. Dann spricht sie wie ein Tonband, das gerade abgespult wird, monoton weiter: „Den Transport in das Krankenhaus hat sie nicht überlebt.“ Silke schüttelt ein Weinkrampf nach dem anderen. Ruth ist sprachlos und zutiefst erschüttert; ihr fallen keine tröstenden Worte ein. Sie rüttelt Silke an den Schultern und schreit: „Was sagst du da? Damit macht man keine Scherze!“ Umklammert halten sie sich fest und lassen ihren Tränen freien Lauf.

      Ruth kann Silke nicht trösten; auch in ihr wütet ein brennender Schmerz. Frau Mahler ist für sie wie eine Mutter gewesen. Oh Gott, warum ist das Leben so grausam? denkt sie.

      Damit sie nicht lauthals losheult, versteift sich Ruths Körper.

      Stillschweigend sitzen die beiden eng umschlungen auf der Bank unter dem alten Baum. Wie lange sie dort sitzen, wissen sie nicht, Zeit spielt keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr irgendeine Rolle ohne Silkes Mutter. Ohne Silkes Mutter ist alles endlos geworden.

      Konfus und ohne Vorwarnung springt Silke auf und schreit ihren Zorn und ihre Hilflosigkeit aus sich heraus. Hektisch zerrt sie an Ruths Jacke, um Ruth zu sich hochzuziehen. Ruth hat nicht die geringste Vorstellung, was im Inneren ihrer Freundin gerade vor sich geht. Silke hämmert heftig mit ihren Fäusten auf Ruth ein und schreit herzzerreißend: „Warum hat sie mich alleine gelassen, was soll ich denn ohne sie tun? Sag es mir, Ruth! Warum nur?“

      Ruth versucht ihre Freundin zu beruhigen, doch es gelingt ihr nicht. Sie zerrt Silke über die Straße und bringt sie nach Hause. Ruth ist es egal, ob sie wieder einmal Hausarrest bekommen wird, weil sie Christin ohne Aufsicht lässt. Sie sagt sich: Silke ist jetzt wichtiger! Schließlich ist Christin sechs Jahre alt, da kann sie ruhig mal für eine Stunde alleine bleiben. In dem Alter bin ich auch alleine zu Hause gewesen, beruhigt sie sich.

      In Silkes Wohnung angekommen, durchsucht sie hektisch die Schränke und hofft einen Schnaps oder Ähnliches zu finden. Mir hat der Schnaps immer über meinen Kummer hinweggeholfen, warum sollte er also nicht auch Silke helfen?, kurbelt es in ihrem Kopf. Irgendwann wird sie fündig, nimmt die Flasche Martini und kippt zwei Gläser davon randvoll.

      Sie gibt Silke ein Glas und befiehlt: „Auf ex“, und sie trinken den warmen Martini ohne Eis ex.

      Es dauert keine zehn Minuten und Silke muss sich übergeben. Sie brüllt und schreit, steckt sich immer wieder einen Finger in den Hals und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Ihre Kehle brennt wie Feuer; Silke hat noch nie zuvor Alkohol getrunken. Ruth ist zufrieden mit dem, was sie sieht, und verfrachtet Silke ins Bett. Sie wartet, bis sie eingeschlafen ist. Erst dann, es ist bereits nach Mitternacht, verlässt sie die Wohnung ihrer Freundin. Silkes Vater ist nirgendwo zu sehen.

      Leise öffnet Ruth die Wohnungstür und glaubt ungesehen in ihr Zimmer zu gelangen. Christin hat sie in der tiefen Trauer, die sie noch immer umgibt, vollkommen aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Erst in dem Moment, als sie die Türschwelle betritt, fällt es ihr wieder siedend heiß ein. Ruth holt tief Luft und betet inständig, dass ihre Mutter bereits