Manche Engel sterben früh. Margarete van Marvik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margarete van Marvik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741860119
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die Mutter auf sie zu. Ruth sieht aus dem Augenwinkel den Gürtel in ihrer rechten Hand. Bevor sie ausweichen kann, peitscht dieser unaufhörlich auf sie ein. Sie spürt, wie die Gürtelschnalle ihren Beckenknochen streift. Ruth verkneift sich den Schrei, den sie vom brennenden Schmerz ausstoßen will. Geistesgegenwärtig hebt sie ihre Hände, um ihr Gesicht zu schützen. Zu spät! Sie fühlt, wie ihre Lippen pelzig werden und ihre Augen trüb vom Blut ihrer aufgeplatzten Augenbraue.

      „Das ist zu viel!“, schreit Ruth vor Schmerz. Innerlich auf das Tiefste aufgewühlt, reißt sie ihrer Mutter den Gürtel aus der Hand, schiebt sie mit unsagbarer Kraft an die gegenüberliegende Wand und zischt drohend in ihr Ohr: „Wenn du es wagst, mich noch einmal anzufassen, bringe ich dich um. Das verspreche ich dir hiermit hoch und heilig! Und noch etwas: Deine Christin kannst du dir sonst wohin stecken ‒ ich werde nicht mehr auf sie aufpassen.“

      Ruth dreht sich auf dem Absatz um und stampft, als sei sie fünf Zentner schwer, in Richtung ihres Zimmers. Sie registriert, dass ihr Vater wieder nicht zu Hause ist.

      Die heutigen Ereignisse waren zu viel für Ruth. In dieser Nacht weint sie sich in den Schlaf. Böse Träume begleiten sie. Auch sie kann nicht begreifen, dass Frau Mahler, die wie eine Mutter zu ihr war, einfach aus ihrem Leben verschwunden ist.

      Sie hat ihr den Trost und die Liebe zukommen lassen, die sie in der eigenen Familie vermisst hat.

      Für Silke, ihren Vater und Ruth folgt eine schlimme Zeit der Trauer. Langsam begreifen sie, dass der Tod etwas Unwiderrufliches ist. Die Hoffnung, die Verstorbene wiederzusehen, ist ganz verschwunden; eine Erkenntnis, die mit voller Wucht auf alle hereinbricht und heftigste Emotionen auslöst. Silke und Ruth stehen dem Schmerz hilflos gegenüber. Angst, Trauer, Unlust und Appetitlosigkeit quälen und begleiten sie in dieser Trauerkrise. Sie glauben, die Lebensfreude und das Glück haben sie für immer verlassen.

      Silkes Vater kann den beiden Mädels in ihrem Schmerz nicht helfen. Er verliert selbst seinen Halt und taucht ab in eine Welt der Depressionen. Nach dem Tod seiner geliebten Frau steht er unter Schock und erlebt die Tage bis zur Beerdigung wie in Trance. Er will nicht wahrhaben, dass er seine Frau und die Mutter seiner Tochter für immer verloren hat. Er ist nicht mehr ansprechbar und betäubt seine tiefe Ohnmacht und seinen Schmerz mit Schlaftabletten und Alkohol.

      Er schläft schlecht, hat keinen Hunger und fühlt sich krank. Er vergisst Dinge, die man sonst eigentlich weiß. Er kann sich auf einmal schlecht orientieren und er verfährt sich mit seinem Auto, auch auf völlig gewohnten Wegstrecken. Die Erschütterung durch den Tod seiner Frau wirkt wie eine Bedrohung auf ihn.

      Silke ist von einem Moment auf den anderen auf sich selbst gestellt. Sie schafft es nicht, ihren Vater aus der tiefen Trauer zu holen. Im Gegenteil! Silke muss hilflos zusehen, wie er sich Stück für Stück selbst vernichtet. Es kommt wie es kommen muss. Er verliert seinen Job. Seither geht er nicht mehr aus dem Haus, grübelt nur noch vor sich hin. Seine Tochter existiert in dieser desastösen Zeit nicht mehr für ihn. Er scheint vergessen zu haben, dass er Verantwortung für Silke trägt.

      Ruth und Silke sind verzweifelt, klammern sich aneinander wie an einem Strohhalm. Sie trösten sich und geben sich gegenseitig Mut und Kraft, bis zu dem Tag, an dem Ruths Mutter ihrer Tochter den Umgang mit Silke verbietet. Warum, kann weder Silke noch Ruth verstehen. Beide vermuten, dass Christin wieder die Übeltäterin ist.

      Der Hass gegenüber Christin wächst ins Unermessliche. Heimlich treffen sich Ruth und Silke erneut, obwohl die Zusammenkünfte schwieriger werden.

      Wenn Ruth aus der Schule kommt, wird der Schlüssel in der Wohnung herumgedreht, sodass sie keine Möglichkeit mehr hat, die Verabredungen mit Silke einzuhalten. Ruth kann sich in solchen Situationen nicht beherrschen, denn sie weiß, dass ihre Schwester für dieses Desaster verantwortlich ist. Wenn sich Ruth die Gelegenheit bietet, sperrt sie Christin im Keller des Hauses ein und nimmt ihr den Wohnungsschlüssel ab. Ruth droht Christin, sie nach Strich und Faden zu verprügeln, wenn sie ihr das Leben weiterhin zur Hölle macht.

      Ab und zu droht sie in ihrem Hass Christin, indem sie ihr zuflüstert: „Denk daran, der Teufel geht niemals zum Engel und der Engel nie zum Teufel! Überlege dir, in welche Richtung du dich zukünftig bewegst.“ Nach solchen giftigen Worten bekommt Christin Angst und rennt anschließend schreiend zu der Mutter.

      Die heimlichen Treffen mit Ruth gehen auch Silke psychisch an die Substanz; gleichzeitig helfen sie ihr kurzfristig über die tiefe Todestrauer ihrer Mutter hinweg.

      Eines Tages nimmt ihre Mutter eine Stelle in der Strumpffabrik an. Sie argumentiert, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt und sie deshalb arbeiten muss.

      Von diesem Tag an überlässt sie auch Christin sich selbst.

      Sie bekommt einen Schlüssel um den Hals gehängt, damit sie nach der Schule nicht auf der Straße steht. Christin hat ihren achten Geburtstag gefeiert und besucht die zweite Klasse der Grundschule. Die Atmosphäre in der Familie wird immer kälter und gefühlloser. Christin jedoch wird weiterhin Puderzucker in den Hintern geblasen. Sie nutzt den Streit ihrer Eltern, um diese gegeneinander auszuspielen. So schafft sie es, dass ihr alles erlaubt und kein Wunsch abgeschlagen wird.

      Ruth und Silke treffen sich weiterhin heimlich im nahe gelegenen Wald. Obwohl sie überhaupt nicht schmecken, rauchen sie Zigaretten, die Silke ihrem Vater entwendet. Sie trösten sich mit Schnaps, den Ruth heimlich aus der Flasche ihres Vaters umfüllt. Sie schmieden Pläne für die Zukunft; sie wollen gemeinsam diesem bedrückten Dasein entrinnen.

      Im Spätsommer, an einem Freitagnachmittag, sieht Ruth einen Möbelwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Sie ahnt Schlimmes! Sie sprintet über die Straße und läuft direkt in die Arme von Silkes Vater.

      Zutiefst erschrocken sieht sie ihn an und betrachtet ihn.

      Ach du Schreck, der ist aber abgemagert!, durchfährt es sie. Der sieht ja aus wie der Tod auf Latschen! Groß und dürr steht er steif wie ein Stock und kerzengerade mit seinen breiten, knochigen Schultern. Die Augen liegen tief eingegraben in seinen Augenhöhlen. Die Wangen sind eingefallen und tiefe Falten durchfurchen sein Gesicht.

      Sein Mund mit den zusammengekniffenen, leicht bläulichen Lippen wirkt schmal. Seine Hose und sein Pulli schlappern an ihm herunter, so als ob er die Kleidung seines großen Bruders trägt.

      Komisch, so ausgezehrt hat er noch nie auf mich gewirkt, denkt Ruth. Nun, ich habe ihn früher schließlich so gut wie nie gesehen. Ob er schon immer so ausgesehen hat?

      Ruth schüttelt sich innerlich und sieht schockiert zu ihm auf. Aus dem Augenwinkel sieht sie Silke weinend an der Haustür stehen. Bestürzt rennt sie auf ihre Freundin zu. Sofort erkennt sie, dass der Umzugswagen Silke von hier fortbringen wird.

      Die Welt der beiden Freundinnen zerbricht in tausend kleine Einzelstücke. Verzweifelt brüllen sie ihren Schmerz aus sich heraus. Keine der beiden kann sich vorstellen, sich künftig nicht mehr zu sehen, nicht mehr miteinander reden und sich nicht mehr gegenseitig trösten zu können.

      Zehn Jahre sind sie Freundinnen. Sie fühlen sich wie Zwillinge, die füreinander verantwortlich sind. Jetzt, in diesem Augenblick, spüren sie leibhaftig, wie jeweils das Herz der anderen aus dem Körper herausgerissen wird. Sie halten sich eng umschlungen und finden keine Worte des Trostes.

      Silkes Vater hat im wahrsten Sinne des Wortes versoffen, was er besaß. Nach dem Tod von Silkes Mutter hat er alles verloren; auch seine Arbeitsstelle. Die Wohnung ist gekündigt, weil er die Miete nicht mehr bezahlen kann. Nun wird er mit Silke nach Schweden zu seiner Schwester fliegen. Als diese von dem tödlichen Unglück ihrer Schwägerin erfuhr, war für sie klar, Silke und ihren Vater zu sich nach Schweden zu holen. Ihre Farm ist groß genug für sie alle. Außerdem braucht sie eine starke Hand, da auch ihr Mann vor einigen Jahren gestorben ist.

      Die Möbel sind beschlagnahmt und versteigert.

      Ruth soll Silke nie wiedersehen.

      Mit Silkes