Manche Engel sterben früh. Margarete van Marvik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margarete van Marvik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741860119
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      Ruth wischt die traurigen Bilder mit einer Handbewegung weg und geht wieder zurück in ihr Zimmer.

      Diesen, ihren besonderen Tag hat sie sich wahrhaft freundlicher vorgestellt. Sie fühlt sich seit der Geburt ihrer Schwester einsam und allein gelassen. Traurig schläft sie in der darauffolgenden Zeit Abend für Abend ein.

      Sie verwindet es nicht, dass ihr Geburtstag einfach weggewischt worden ist.

      So als wäre sie nie geboren worden.

      Ruth gibt jedoch nicht auf und tröstet sich täglich damit, dass die gemeinsame Mutter es mit ihrer Einschulung wiedergutmachen wird. Dies ist ihr kleiner Hoffnungsschimmer.

      Die Tage bis zu ihrer Einschulung im September vergehen wie im Flug. Seit dem Tag ihres vergessenen Geburtstages ist sie fast täglich Gast bei ihrer Freundin Silke. Was soll sie auch noch zu Hause? Das Baby schreit den ganzen Tag und die Mutter wird immer launischer.

      Ihren Vater sieht sie kaum noch, er legt seit der Geburt von Christin viele zusätzliche Sonderschichten bei der Kripo ein. Ruth fehlt ihr Papa sehr, oft denkt sie an die schöne Zeit, wenn er ihr vor dem Einschlafen Geschichten vorgelesen und sie liebevoll in den Arm genommen hat.

      Sie liebt ihren großen blonden Stiefvater; sie vergleicht ihn immer mit dem großen alten Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Groß und ganz mächtig.

      Oft setzt sie sich unter diesen Baum, der ihr ein guter Freund und stiller Vertrauter geworden ist.

      Seit einigen Tagen bereitet Ruth ihr Frühstück selbst zu. Überwiegend geht sie jedoch nach dem Aufstehen zu ihrer Freundin. Nur noch zum Schlafen kommt sie zurück in die Wohnung ihrer Eltern. Ruth glaubt, dass es der Mutter angenehm ist, sie so selten zu sehen.

      Der heiß ersehnte Tag der Einschulung rückt näher. Ruths Neugier auf die Schule wächst ins Unermessliche. Inständig hofft sie, eine Schultüte mit Buntstiften, Radiergummi und Spitzer, so wie ihre Freundin Silke, zu bekommen. Schließlich hat ihre Mutter etwas gutzumachen. Die Schiefertafel und den dazugehörigen Griffel hat ihr Onkel Fred vor einigen Wochen aus Heidelberg geschickt. Einen alten Schulranzen aus abgespecktem Leder hat sie von einer Nachbarin, deren Tochter die Schule bereits abgeschlossen hat, bekommen.

      Vor lauter Aufregung kann Ruth in dieser Nacht nicht einschlafen und zählt das Schlagen jeder vollen Stunde der Kirchturmuhr, die am Ende der Straße steht. Um sechs Uhr früh hält sie es nicht mehr aus und schleicht in die Wohnküche.

      Sicherlich ist hier meine Schultüte versteckt, hofft sie zuversichtlich und sucht jede kleine Ecke ab. Egal, wo sie nachschaut, ob unter der Couch oder hinter dem Schrank, hinter der Kommode, im Schrank oder in der Toilette, die eine halbe Etage tiefer liegt; sie findet nichts ‒ einfach nichts.

      Niedergeschlagen geht sie zurück in ihre kleine Kammer, setzt sich auf ihr Bett und weint leise vor sich hin.

      Ihre Gefühle fahren Achterbahn; erst ist sie traurig, anschließend siegt die aufkeimende Wut und sie schlägt unmotiviert auf ihr kleines Kissen ein.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigt sie sich und tröstet sich damit, dass ihre Mutter die Tüte bestimmt aus einem der verschlossenen Schränke im Schlafzimmer zaubert.

      Um acht Uhr hält sie es in ihrer Kammer nicht mehr aus. Eilig zieht sie ihr Lieblingskleid an und kämmt ihre roten mittellangen lockigen Haare, die heute widerspenstig sind und sich kaum kämmen lassen. Während sie in Richtung Wohnküche läuft, denkt sie, dass die Mutter an diesem besonders wichtigen Tag mit dem Frühstück auf sie warten wird. Sie glaubt ganz fest daran, dass sie gemeinsam zur Einschulung gehen werden.

      Gut gelaunt in der Küche angekommen, erkennt sie, dass der Frühstückstisch nicht gedeckt und Mutter nirgends zu sehen ist. Frustriert setzt sie sich an den Tisch und trommelt ungeduldig mit ihren kleinen Fingern auf die Tischplatte. Sie begreift in diesem Augenblick nicht, warum nicht wenigstens ihr heiß geliebter Vater an solch einem wichtigen Tag bei ihr ist. Bestimmt hat auch das mit meiner Schwester zu tun, denkt sie bitterböse.

      Schmerzlich lenkt Ruth ihre Gedanken in Richtung Küchenuhr, damit sie nicht völlig durchdreht. Die Uhr kann sie schon lesen, darauf ist sie sehr stolz. Jetzt wünscht sie sich, dass es nicht so wäre; gebannt starrt sie auf die übergroßen Zeiger. Der kleine Zeiger bewegt sich erbarmungslos und unaufhörlich weiter, ohne dass ihre Mutter zu sehen ist. Es wird halb zehn und der Minutenzeiger tickt kaltblütig Runde für Runde. Wie mit einem Donnerschlag schlägt die Uhr die zehnte Stunde am Morgen. Entgeistert schaut sie zur Tür und glaubt noch immer, dass ihre Mutter mit einer Schultüte im Arm in die Küche geschwebt kommt.

      Doch nichts dergleichen geschieht! Weder wird eine Schultüte aus dem Schrank gezaubert noch taucht ihre Mutter in Sonntagskleidung auf, um sie zur Schule zu begleiten. Ruth wartet geduldig, doch nirgendwo ist etwas von ihr zu sehen oder zu hören.

      Ruth spürt, wie es ihr heiß den Rücken herunterläuft und ein unbändiger Zorn in ihr aufsteigt. Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen und ihr Kopf läuft von einer Sekunde zur anderen rot an. Sie stampft hart mit ihrem Bein auf den Boden und schreit, was ihre Kehle hergibt. Ruths Hände jucken schon wieder verdächtig und schlagartig erscheinen kleine Bläschen auf dem Handrücken.

      Ihre Mutter hört dieses ständige Klopfen auf den Boden und das wütende Geschrei ihrer Tochter.

      Entrüstet kommt sie in die Küche gestampft und brüllt Ruth erbost an: „Was ist denn in dich gefahren; merkst du nicht, dass deine kleine Schwester schläft? Willst du sie mit deinem Getrampel und Geschrei etwa aufwecken? Mich hast du schon geweckt, ein paar Stunden Schlaf hätte ich noch gebrauchen können. Deine Schwester hat fast die ganze Nacht geschrien.“

      Ruth erstarrt bei diesen mürrischen Worten und kann ihre Empörung, ihren Seelenschutt und die bittere Enttäuschung nun nicht mehr für sich behalten. Sie schreit zurück:

      „Meine Schwester soll sich zum Teufel scheren, sonst packe ich sie und werfe sie in den Müllschlucker. Vielleicht merkst du dann, dass ich auch noch da bin! Soll ich jetzt etwa von der Schule wegbleiben, wegen der blöden Kuh?! Willst du das wirklich?

      Hast du mich gefragt, ob ich überhaupt eine Schwester will?“

      Zornestränen laufen Ruth über das gerötete Gesicht, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. Ihre Hände sind geschwollen von den vielen Eiterbläschen auf dem Handrücken. Sie muss sich unaufhörlich kratzen. Sie reibt ihre Hände blutig. Sie kann diese Bläschenattacken auf ihrem Handrücken nicht verhindern.

      Mit scheinbarer Bestürzung in den Augen und offenem Mund starrt Mutter sie an und fragt erschrocken: „Bist du sicher, dass es heute ist? Hm, das habe ich wohl vergessen.“

      Ohne ein weiteres tröstendes Wort dreht sie sich um und geht zu dem schreienden Baby. Mit ihrer Schwester auf dem Arm nimmt sie die Jacke vom Haken und befiehlt Ruth, die Schultasche, die verloren in einer Ecke in der Küche steht, an sich zu nehmen.

      Schnellen Schrittes laufen sie über die Straße zur Nachbarin Frau Mahler. Unbeherrscht und laut klopft Ruths Mutter an deren Wohnungstür und wartet ungeduldig darauf, dass sich die Tür öffnet. Silkes Mutter, eine große, korpulente Frau im schicken Kostüm und mit gepflegtem Aussehen, öffnet die Wohnungstür.

      Ruths Mutter steht Frau Mahler mit einer speckigen Kittelschürze und ungewaschenen, mittellangen dunkelbraunen Haaren, die mit Lockenwicklern zusammengehalten werden, gegenüber. Ruth sieht betroffen zu Boden; die Situation ist ihr peinlich und sie schämt sich für die Aufmachung ihrer Mutter. In diesem Augenblick wünscht sie sich, dass unter ihren Füßen ein großes Loch aufgeht und sie mit Haut und Haaren verschlingt.

      Mit süffisantem Lächeln auf den Lippen fragt Ruths Mutter Frau Mahler: „Könnten Sie meine Tochter mit zur Einschulung nehmen? Ich schaffe es nicht, Sie sehen ja, ich habe das Baby im Arm und mein kleiner Engel hört einfach nicht auf zu schreien!“

      Ruth ist diese Situation sehr unangenehm und sie fühlt sich in ihrer Haut nicht wohl. Nach einer peinlichen Schweigeminute fragt Silkes