Manche Engel sterben früh. Margarete van Marvik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margarete van Marvik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741860119
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       Das Wiedersehen

       Die gnadenlose Wahrheit

       Vater im Krankenhaus

       Der unendliche Schmerz

       Brief an Gudrun

       Die Überführung

       Der Abschied

       Auge um Auge

       Der nächtliche Besuch

       Margarete van Marvik

       Abriss „Albtraum“

      Fünfzehnter August 1964

      Ruth spürt die Kälte, die ihre Muskeln lähmen, nicht. Jegliches Leben ist aus ihren Adern gewichen. Sie fühlt nicht die Nässe in ihrer Kleidung, die den gesamten Körper erzittern lässt. Sie schaut ins Leere ‒ in ein tiefes schwarzes Loch.

      Ihr Gesicht ist geschwollen von den vielen Tränen der Ratlosigkeit. Das Tagebuch ihrer kleinen Schwester hält sie, eingewickelt in eine Plastiktüte, so fest in ihrer Hand, dass die Knöchel an ihren Fingern weiß hervortreten. Sie fühlt sich ausgebrannt und murmelt immerzu: „Hätte ich die Tragödie wirklich verhindern können? Bin ich alleine schuld an ihrem Tod?“

      Erneut wird sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Sie fühlt sich schuldig, schuldig am Tod ihrer kleinen Schwester.

      Die vorbeilaufenden Menschen sehen mitleidvoll auf die junge zierliche rothaarige Frau mit dem Pagenkopf.

      Ruth sitzt zusammengesackt auf einer Bank, unmittelbar an dem Tor zum Friedhofsgelände. Fröstelnd presst sie ihre Arme, die Plastiktüte fest in der rechten Hand haltend, an ihren Körper.

      Die verwischte Schminke läuft in schwarzer und hellblauer Farbe von ihren Wimpern an ihren Wangen herunter. Geistesabwesend wischt sie die verlaufene Farbe mit dem linken nassen Ärmel ihrer hellen leichten Jacke aus dem Gesicht. Die tröstenden Worte einer fremden Frau, die neben ihr stehen geblieben ist, hört sie nicht. Alles um sie herum wirkt beklagenswert und öde. Selbst der Himmel mit seinen tief hängenden Wolken scheint in diesem Moment ihrer Trauer und ihrer Hilflosigkeit zuzustimmen.

      Nichts, aber auch gar nichts spürt sie von dem warmen Sommerregen am fünfzehnten August 1964, ihrem Lieblingsmonat.

      Ruth ist abgetaucht in die Vergangenheit, in einen Abschnitt ihres jungen Lebens, den sie so gerne hinter sich gelassen hätte. Mit brachialer Gewalt, wie ein Bumerang, kommt ihre Kindheit zu ihr zurück. Der warme Sommerregen, der unaufhaltsam an ihrer leichten Sommerjacke herunterprasselt, stört sie nicht. In Gedanken reist sie zurück in ihre Kindheit.

      Ruth ist am achtzehnten Juli 1943 in Heidelberg geboren und es sind nur noch zehn Tage bis zu ihrem siebten Geburtstag. Ihren richtigen Vater kennt sie nicht; er ist vor ihrer Geburt im Krieg gefallen. Ihren Stiefvater himmelt sie an, denn er ist groß, blond und stark.

      Der 8. Juli 1950 ist ein wundervoller warmer Sommertag. Ruth freut sich auf diesen Nachmittag, denn sie wird mit ihrem Papa ins Schwimmbad gehen. Seit vier Wochen streicht sie jeden Abend auf ihrem eigens hierfür gebastelten Kalender einen Tag ab.

      Den heutigen und letzten Tag des Wartens hat sie mit einem ganz dicken schwarzen Stift durchgestrichen. Ihre Badesachen sind schon seit Tagen gepackt, sodass sie die Tasche nur noch greifen muss.

      Ruth ist ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Ihre roten, leicht welligen Haare, die sie schulterlang trägt, lassen sie wie einen kleinen Engel erscheinen. Aus ihren grünen Augen sprüht der pure Schabernack.

      An diesem Tag stürmt Ruth in die Wohnküche; sie will direkt in Papas Arme fliegen, da … Jäh bleibt sie an der Türschwelle stehen, als sie erkennt, dass er nicht wie sonst in der Küche steht, wenn sie sich etwas vorgenommen haben.

      Eine beklemmende Stille breitet sich im Raum aus. Zum ersten Mal hört sie das laute Ticken der uralten Küchenuhr, die sie überhaupt nicht leiden mag. Zutiefst enttäuscht, dass sie ihrem Dad nicht in die Arme fliegen kann, sieht sie sich wütend um und spricht trotzig mit sich selbst: „Er ist nicht da!“ Anklagend zieht sie ihre Schultern nach oben und lässt sie mit einem Ruck wieder nach unten fallen. Ihre gute Laune ist dahin und zornig ruft sie: „Dad, wo bist du? Sag doch etwas! Hast du vergessen, dass wir heute schwimmen gehen wollen?“ Demonstrativ steht sie in der Küche und wartet mit verschränkten Armen auf eine Antwort.

      Doch nicht ihr Dad antwortet ‒ nein ‒ ein Babygeschrei aus dem angrenzenden Schlafzimmer dringt unüberhörbar zur Küche herüber.

      Kritisch sieht sie sich um und hält die Luft an. Habe ich richtig gehört?, denkt sie verstört. Skeptisch legt sie den Kopf zur Seite und geht, einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung Schlafzimmer. Die Tür ist nur angelehnt; leise tastet sie sich näher heran und schiebt die Tür einen Spalt auf. Was sie sieht, raubt ihr den Atem!

      Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund geht sie, mechanisch von einer unsichtbaren Hand gezogen, auf das Bett ihrer Mutter zu. In diesem Augenblick versteht und registriert sie in ihrem kleinen Kopf, wer ihren schönen Sommertag im Schwimmbad mit ihrem Dad zerstört hat.

      Es ist das Baby im Arm ihres Vaters!

      Wie vom Blitz getroffen starrt sie auf dieses schreiende Etwas in Papas Armen. Immer noch geschockt fragt sie ihren Vater stotternd: „W-wann gehen wir ins Schwimmbad? D-du hast doch versprochen, heute mit mir schwimmen zu gehen!“ Ihr Dad hört ihre Frage jedoch gar nicht, er ist völlig hin und weg vom Anblick seines Kindes.

      Stattdessen ruft die Mutter ihr zu: „Sieh mal, das ist deine kleine Schwester; willst du sie nicht auf unserer Welt willkommen heißen?“ Willkommen heißen?! Widerwillig bewegt sich Ruth einen Schritt vorwärts zum Bett ihrer Mutter und muss zusehen, wie ihr Dad mit verklärtem Blick das Baby umschlungen hält. Verständnislos wandert ihr Blick zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater und zuletzt zu dem Baby. Ruth fühlt sich restlos verraten von ihrem Dad, der wegen eines Babys die gemeinsame Verabredung hat platzen lassen.

      Und was soll an diesem hässlichen Etwas mit knallrotem Kopf gefälligst schön sein?, geht es ihr durch den Kopf. Außerdem sind da, wo die Augen sein sollen, nur eitrige Schlitze zu sehen. Und sabbern tut die auch noch ‒ igittigitt!

      Völlig aufgebracht, dass man ihr einfach so eine Schwester präsentiert, verschränkt sie trotzig die Arme. Um ihrer Empörung Nachdruck zu verleihen, stampft sie mit ihren kleinen Füßen mit aller Kraft auf den Boden.

      Die Gedanken in Ruths kleinem Gehirn wirbeln wild durcheinander. Ich will doch gar keine Schwester; ich bin glücklich so, wie es ist, und das soll sich auch nicht ändern!

      Mit gewaltiger Wucht wird ihr plötzlich klar, dass der kleine Störenfried ihr Leben verändern wird. Verzweifelt schreit sie: „Was ist auf einmal los mit euch, warum habt ihr mir nichts davon gesagt? Was habe ich falsch gemacht? Ihr wollt mich nicht mehr, deshalb habt ihr euch noch ein Baby gemacht, gebt es zu! Wir haben bisher doch so viel Spaß gehabt, auch ohne das Baby! Was habe ich euch denn getan?“

      Ruth