Manche Engel sterben früh. Margarete van Marvik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margarete van Marvik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741860119
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Mutter reagiert völlig emotionslos auf Ruths Wutanfall. Sie wendet sich wieder Christin zu und belehrt unterdessen Ruth tonlos: „Mein Kind, hast du immer noch nicht begriffen, dass ich momentan andere Sorgen habe, als an deinen blöden Geburtstag zu denken! Außerdem benötigen wir das Geld für das Baby und eine neue Wohnung. Das hat dir dein Vater doch vor ein paar Tagen erklärt. Hast du das etwa schon vergessen?“

      Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen prasseln diese herzlosen Worte auf Ruth nieder.

      Instinktiv duckt sie sich, wie ein verdroschener Hund.

      Die gefühllose Reaktion ihrer Mutter reißt Ruth regelrecht den Boden unter den Füßen weg, die in ihren grellen gelben Socken stecken und die sie passend zu ihren Schuhen und in Erwartung des Fahrrades angezogen hat.

      Wieder meldet sich die Stimme in ihrem Kopf und plappert unaufhörlich auf sie ein: „Was hast du nur getan, dass sie so sauer auf dich ist? Wieso hasst sie dich auf einmal so, dass sie dir nicht mal an deinem Geburtstag in den Arm nimmt?“,

      Diese Gedanken bohren wie eine rotierende Bohrmaschine in ihrem Kopf.

      Weinend rennt sie aus der Küche, knallt die Tür hinter sich zu und stürmt mit unsäglichem Zorn im Bauch die Treppen herunter, direkt auf die Straße.

      Dort setzt sie sich, wie schon so viele Male in letzter Zeit, auf den Stufenabsatz vor den Hauseingang, während ihre Gedanken unaufhörlich weiterkreisen. Oh, wie sehr ich Christin hasse! Die ist an allem schuld! Wegen der wollen die mich nicht mehr haben! Ich bin denen doch nur noch lästig. Vielleicht sollte ich dieses abscheuliche Baby aus dem Fenster werfen oder lieber im Klo runterspülen. Besser ich gehe weg von hier. Was soll ich denn noch hier? Die werden nicht einmal merken, wenn ich fort bin.“

      Zusammengekauert sitzt sie auf dem Treppenabsatz vor dem Haus und betrachtet verzweifelt den uralten Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Traurig flüstert sie ihm zu: „Du lieber, armer Baum, du bist genauso traurig und einsam wie ich, weil niemand auf dir herumklettern will. Mich will auch niemand mehr haben.“

      Um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, holt sie ihren bunten Peitschenkreisel aus der Tasche und peitscht verbissen auf den Kreisel ein. Dieser hüpft hin und her, sodass die bunten Farben immer schneller ineinanderlaufen. Ruth schwingt die kleine Peitsche schneller und schneller, als sei sie von Dämonenhand geführt.

      Ihre unsägliche Enttäuschung, die Ohnmacht ihrer Hilflosigkeit und die Wut, die sich in ihr aufgestaut hat, all das überträgt sie auf den Kreisel.

      Derart vertieft in ihrem Kreiselspiel hört sie nicht ihre Freundin Silke kommen. Silke ist ein Jahr jünger als sie und wohnt auf der anderen Straßenseite in einem Dreifamilienhaus. Silke ist fast einen Kopf größer als Ruth, dafür ein bisschen kräftiger in der Statur. Sie trägt ihre langen braunen Haare immer zu Zöpfen gebunden. Das deutlich gerötete und leicht rundliche Gesicht passt zu ihrer kleinen Augenform und ihren langen Zöpfen. Sie hat Silke direkt nach ihrem Zuzug nach Durlach kennengelernt, seitdem ist sie ihre beste Freundin.

      Silke rüttelt Ruth an den Schultern. Sie erschrickt, ihre Freundin weinend und geistesabwesend mit ihrer Kreiselpeitsche in der Hand zu sehen.

      Sie ist gekommen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren.

      Silke bleibt stumm und nimmt Ruth tröstend in die Arme.

      Schluchzend und empört, sich ständig an den Händen kratzend, stottert Ruth immer noch fassungslos vor sich hin: „Es gibt heute keine Geburtstagsparty; meine Mutter will mich nicht mehr haben, sie hat einen neuen Liebling, meinen Geburtstag hat sie extra vergessen.“

      Stillschweigend und zutiefst erzürnt nimmt Silke Ruths Hand und zieht sie mit sich. Wortlos trippeln sie in Silkes Zimmer. Frau Mahler, Silkes Mutter, sieht fragend ihre Tochter an. Silke antwortet mit einem Schulterzucken.

      Am Nachmittag, als Ruth sich ein bisschen beruhigt hat, erfährt Frau Mahler die traurige Geburtstagsgeschichte. Sie ist entsetzt und zornig über so viel Gefühlskälte und organisiert schnell Kuchen und Kakao, um Ruths Ehrentag gebührend zu feiern.

      Es ist eine traurige Feier; Ruth und Silke kauen lustlos auf dem Kuchen herum. Jede ist mit ihren Gedanken auf einem anderen Schauplatz.

      Alle Versuche, die beiden Mädels aufzumuntern, scheitern. Erst am Abend bringt Frau Mahler Ruth auf die andere Straßenseite bis vor die Wohnungstür.

      Bestürzt stellt Ruth fest, dass sie nicht vermisst wird. Leise und geduckt, wie ein geschlagener Hund, schleicht sie in ihr Zimmer, welches sie in naher Zukunft mit ihrer verhassten Schwester wird teilen müssen. Ihr Vater ist immer noch nicht nach Hause gekommen. Tränen schießen erneut in ihre Augen.

      Verdrossen sieht sie sich in ihrem kleinen Zimmer um und fragt sich verzweifelt: Wo soll denn hier noch ein Schlafplatz hin? Es ist doch sowieso schon so eng. Lediglich ein Schrank und ein Bett finden in diesem Zimmer Platz. Unter dem kleinen Fenster hat vor einigen Tagen ihr Stiefvater einen Schreibtisch gebaut, damit sie demnächst ihre Schulaufgaben machen kann. Ruth denkt zurück an Heidelberg, das sie vor zwei Jahren für diesen kleinen Vorort von Karlsruhe verlassen musste.

      Ich wollte überhaupt nicht weg aus Heidelberg, mit aller Macht habe ich mich dagegen gewehrt. So sehr habe ich mir gewünscht, in der Nähe meines Onkels zu bleiben. Onkel Fred, den Bruder meines Vaters, mochte ich sehr. Seine Geschichten liebte ich, die haben mich immer so gut abgelenkt, wenn ich traurig oder wütend gewesen bin. Mit seinen komischen Grimassen hat er mich so oft zum Lachen gebracht. Alles Bitten und Betteln, in Heidelberg bleiben zu können, hat nicht geholfen. Gnadenlos hat der Monstermöbelwagen alle Möbel, auch die aus meinem Zimmer, in seinem riesigen Bauch verschluckt.

      Selbst mein Dad ist erbarmungslos geblieben und hat mich mit meinem Kummer allein gelassen.

      Jetzt wohnen wir in einem Monsterhaus mit feuchten Wänden. Der Putz bröckelt von der alten Fassade und hat eine grässliche bräunliche Farbe.

      Meine Mutter hat entsetzt geschrien: „So eine Ruine! In diesem Nest ist nichts wiederaufgebaut worden!

      Hier bekomme ich ja Depressionen!“

      Mir selbst haben die Beine geschlottert, so sehr habe ich mich gefürchtet, dieses alte und morsche Haus zu betreten. In der Hauseingangstür fehlt das Glas, es gibt nur noch den Rahmen. Das Treppenhaus empfinde ich wie einen großen schwarzen Müllschlucker, in dem ich jederzeit hineingeworfen werden kann. Nur mit einem sehr beklemmenden Gefühl betrete ich dieses düstere und grässliche Treppenhaus.

      Die Angst, dass dieses Loch mit den knarrenden Stufen und dieser grässlichen Tapete alle darin lebenden Menschen fressen könnte, lässt mich bis heute nicht los.

      Ruth schüttelt ihre Gedanken ab und überlegt, ob sie nicht doch noch einmal in die Küche gehen soll. Vor ihrem Zimmer bleibt sie jedoch stehen und betrachtet die Wohnung, in der sie zu Hause ist.

      Die Wohnung ist sehr klein und besteht nur aus einer Küche, die gleichzeitig auch als Wohnzimmer dient. Der Wohnraum ist durch eine große alte Ledercouch getrennt. Der Kohlen- und Küchenherd mit dem Kaminrohr steht an der Wand zur Straßenseite. Nur dieser Herd beheizt die gesamte Wohnung. Neben dem Ofen steht die Zinkbadewanne, hier werden die Windeln der Schwester gewaschen. Einmal wöchentlich darf sie in der Wanne baden, aber erst nachdem ihre Eltern gebadet haben. Meist ist das Wasser schon recht kalt. Über dem Kohlenküchenherd hängen die Windeln von Christin auf der Leine. Ein Nierencouchtisch mit einem alten grünen Cocktailsessel in der rechten Ecke füllt diesen ebenfalls dunklen Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite ist eine rustikale Essecke untergestellt. Einen Fernseher haben sie noch nicht. Lediglich ein altes Radio dekoriert den kleinen Schrank in der gegenüberliegenden Ecke. Die Stehlampe mit der gelblichen kelchförmigen Lampenverkleidung bringt ein wenig zusätzliches Licht in das trübe Zimmer. Dicke bunte Blümchenübergardinen wärmen im Winter noch zusätzlich die Wohnküche. Das Elternschlafzimmer ist winzig und feucht. Sämtliche Ecken sind mit Utensilien des täglichen Gebrauchs, wie Handtücher,