Manche Engel sterben früh. Margarete van Marvik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margarete van Marvik
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741860119
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die habe ich glatt vergessen zu besorgen; es ist halt schwierig mit noch einem Baby“, schiebt sie noch entschuldigend hinterher.

      Frau Mahler ist entsetzt über diese gefühllose Frau; sie atmet tief durch, bevor sie erwidert:

      „Gut, Silke, teilt die Tüte mit Ihrer Tochter, schließlich sind sie ja Freundinnen.“ Hastig zieht Frau Mahler Ruth in die Wohnung und schließt die Tür hinter sich. Sie atmet einmal tief durch und schüttelt ihren Kopf, als sie leise vor sich hin murmelt: „Was für eine fürchterliche Mutter!“

      Ruth ist ebenso sprachlos und diese Sprachlosigkeit nimmt ihr die Luft zum Atmen. Erneut bricht ihre kleine Welt zusammen. Sie kann die Tränen der Bitterkeit nicht zurückhalten. Silke nimmt ihre Freundin stillschweigend in den Arm, aber sie kann sie nicht trösten. Ruth hat in kürzester Zeit die zweite seelische Ohrfeige durch ihre Mutter erhalten. Ihr kleiner hübscher Kopf kann nicht begreifen, warum Mutter ihr gegenüber plötzlich so herzlos ist.

      Ruth versteht auch nicht, warum ihr Vater sie an solch einem für sie so wichtigen Tag nicht unterstützt.

      Bis vor einigen wenigen Wochen war sie doch noch sein Liebling.

      Sie begreift diesen Wandel nicht und gibt sich die Schuld an der plötzlichen Herzlosigkeit ihrer Eltern.

      Laut schluchzt sie auf und nuschelt: „Nicht einmal eine Schultüte bin ich mehr wert.“

      Hilflos und wütend zugleich saust Ruth aus der Wohnung ihrer Freundin. Diese soll nicht sehen, wie ihre Gefühle Achterbahn fahren. Sie setzt sich vor die Haustür und schaut starr auf den Asphalt der Straße. Frau Mahler folgt ihr und legt tröstend die Hand auf Ruths Schulter. Aufmunternd sagt sie zu ihr: „Komm, kleine Ruth, wir gehen jetzt gemeinsam zur Einschulung und feiern anschließend eine kleine Party. Du wirst sehen, wie schnell die Jahre vorüberziehen, und wenn du erst einmal erwachsen bist, dann wirst du darüber lachen. Ganz bestimmt.“

      Lieblos gelebte Jahre ziehen vorüber und Ruth kann ihrer Mutter nicht verzeihen, dass sie die Einschulung, die ihr so wichtig war, vergessen hat. Es wird nie wieder, auch nicht ansatzweise darüber gesprochen. Ruth leidet seit dem Tag der Geburt Christins an Liebesentzug und fühlt sich fremd in dieser Familie. An ihrem zehnten Geburtstag stellt sie ihre Mutter zur Rede. „Sag mal, warum behandelst du mich wie eine Magd und nicht wie dein Kind?“ Kaum hat Ruth diese Frage ausgesprochen, da bereut sie es auch schon sie gestellt zu haben; sie ahnt bereits, dass ihr die Antwort der Mutter nicht guttun wird. Ihre Mutter sieht sie entgeistert an, so als habe sie die Frage nicht verstanden. Nach einer kurzen Gedankenpause holt sie tief Luft und antwortet erst leise, dann immer lauter, bis die Sätze schließlich hysterisch aus ihr herausgepresst kommen: „Ich wollte dich nicht, du warst ein Kind der Sünde und ich war noch viel zu jung. Geheiratet habe ich einen Offizier, den ich kaum gekannt habe. Es ist die Hoffnung gewesen, durch die Heirat ein erträglicheres Leben zu führen.

      Doch als er seinen Sonderurlaub bei mir verbracht hat, wurde ich schwanger. Als er ging, kam er nicht mehr aus dem Krieg zurück. Die Monate der Schwangerschaft musste ich alleine durchstehen. Damals, als du noch in meinem warmen Körper warst, wollte ich dich unbedingt heraushaben. Doch du, du hattest einfach noch keine Lust, geboren zu werden. Dann musste ich dich mit aller Gewalt herauspressen und du kamst mit dem Hintern zuerst in diese Scheißwelt.

      Du hast mir dabei den Unterleib aufgerissen und das kann und will ich dir nicht verzeihen.

      Hätte ich deinen Stiefvater nicht nach deiner Geburt kennengelernt, würdest du wahrscheinlich heute in einem der Trümmerhaufen stecken.“

      Ruth erstarrt bei diesen eisig gesprochenen Worten und weicht langsam Schritt für Schritt zurück. Die hasserfüllten Augen ihrer Mutter wird sie wohl nie vergessen können.

      Stillschweigend dreht sich Ruth um und stolpert fassungslos aus der Wohnung.

      Mit diesen brutalen Worten ihrer Mutter im Kopf fängt Ruth an, sich fast täglich zu ritzen. Auf dieses Weise hofft sie, Abbitte gegenüber ihrer Mutter zu tun. Sie fühlt sich verraten, ungewollt, ungeliebt.

      Einige Tage nach diesem folgeschweren Gespräch wird Ruth unter Androhung von Schlägen gezwungen, Käseecken, die nicht mehr verkauft werden dürfen, in dem Einkaufsladen am Ende der Straße zu erbetteln.

      Ruth schreit die gemeinsame Mutter an: „Warum soll ich das tun? Papa arbeitet doch schon Tag und Nacht! Haben wir etwa nicht genug zum Leben, sodass ich betteln gehen muss?“ Für Ruth ist diese Aufforderung eine weitere fatale Demütigung. Ihre Mutter antwortet darauf wütend: „Papa gibt mir zu wenig Haushaltsgeld für die Woche, damit kommen wir nun mal nicht aus. Du weißt, dass Engelchen Christin viel an zusätzlicher Nahrung braucht. Außerdem spart Papa für eine neue Wohnung, damit wir aus diesem Loch hier rauskommen. Jetzt geh schon“, befiehlt sie und schiebt Ruth unsanft aus der Wohnungstür.

      Fast eine Stunde geht sie vor dem Krämerladen auf und ab; sie kann sich nicht überwinden, diesen zu betreten. Kurz bevor der Laden schließt, fordert die Inhaberin, eine Frau mittleren Alters, Ruth auf, einzutreten. Stillschweigend und mit gesenktem Kopf betritt sie den Laden. Sie schämt sich so sehr; sie spürt, wie sie rot anläuft, und sie glaubt, ihr Gesicht sei jetzt so rot wie ihre Haare. Wohlwollend steckt ihr die Ladeninhaberin die Tüte mit den Käseresten zu. Sie sieht Ruth freundlich an und sagt tröstende Worte: „Kind, das muss dir nicht peinlich sein; es kommt schon mal vor, dass es mit dem Haushaltsgeld eng wird. Komm, nimm die Tüte, und ich verspreche dir, keinem etwas davon zu erzählen. Denk doch mal nach, es ist sicherlich besser, jemandem diese Käseecken zu schenken, als sie in den Müll zu werfen.“

      Hastig greift Ruth die Tüte, ohne ihren Kopf zu heben, ein Dankeschön murmelnd. Wie von einer Tarantel gestochen rennt sie mit dem Käse in der linken Hand aus dem Laden. Nach dieser peinlichen Erfahrung flucht sie vor sich hin. Sie findet keinen Weg, ihren unbändigen Zorn zu zügeln.

      Seit diesem Erlebnis kommt sie nie wieder der Aufforderung nach, Käseecken zu erbetteln. Vielmehr schmiedet sie Pläne, wie sie ihrer Mutter die ständigen Demütigungen heimzahlen kann.

      Der innere Groll macht sie widerspenstig. So trotzt sie ihrer gemeinsamen Mutter, indem sie genau das Gegenteil von dem tut, was sie tun soll.

      Oft bekommt sie dafür Hausarrest oder das wöchentliche Taschengeld von fünfzig Pfennig wird gestrichen. Ruth ist das komplett egal. Sie glaubt, dass sie nur durch ihr bockiges Verhalten den persönlichen Demütigungen ihrer Mutter entgehen kann.

      Christin ist inzwischen drei Jahre alt. Jeder Wunsch wird ihr von den Augen abgelesen. Für ihre Eltern, hauptsächlich für ihre Mutter, ist Christin der kleine Engel mit langen blonden Locken und blauen Augen. Ihre blonden Haare und die stahlblauen Augen hat sie von ihrem Vater geerbt.

      Ruth hingegen glaubt, mit ihren roten Haaren und der blassen Haut klein und unscheinbar gegenüber ihrer Schwester zu wirken.

      Seit zweieinhalb Jahren teilt Ruth das kleine Zimmer mit ihr. Christin piesackt sie, indem sie absichtlich ihre Schulsachen versteckt oder ihre Schulhefte zerreißt. Wenn sie sich bei ihrer Mutter beschwert, bekommt sie obendrein noch Schimpfe und Hausarrest.

      Ihre kleine Schwester freut sich tierisch darüber und es bereitet ihr großen Spaß, immer im Mittelpunkt zu stehen. Je älter Christin wird, umso mehr kränkelt ihre Mutter. Ruth übernimmt nach und nach die Mutterrolle gegenüber ihrer verhassten Schwester. Sie schafft es zeitlich kaum noch, ihre Freundin Silke zu treffen. Darüber sind beide sehr unglücklich und wütend.

      Im Laufe der Jahre entwickelt sich Ruth zu einer zierlichen, rothaarigen Schönheit. Ihre katzengrünen Augen schauen melancholisch in die Welt. Ihre Haare trägt sie seit einiger Zeit Kinn lang mit geradem Pony, der bis zu ihren Augenbrauen reicht. Die Jungs aus ihrer Klasse umschwärmen Ruth. Sie nennen sie heimlich „die Unnahbare“.

      Sie ignoriert die bewundernden Blicke und will mit den Jungs nichts zu tun haben.

      Nein, es schmeichelt ihr nicht einmal, denn sie weiß auch,