Einmal im Jahr die Sintflut ebook. Alana Maria Molnár. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alana Maria Molnár
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844236743
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János verkündet das Urteil und verbindet unsere Bestrafung mühelos mit seinem Steckenpferd: »Ihr müßt drei Rätsel lösen. Aber ich warne euch, die konnte ich selber nicht knacken.«

      Laci schaut zu Boden und ich denke, der ganze Nachmittag ist jetzt hin, keine Zeit mehr zum Spielen. Wir werden die schweren Rätsel nie lösen können.

      Als wir draußen vor der Tür stehen, lacht Laci auf. »Ich habe das Buch«, flüstert er mir ins Ohr.

      »Was für ein Buch?«

      »Na, das mit den Rätseln. Die Lösungen stehen alle hinten drin. Man muß es nur auf den Kopf stellen. Ich habe es von meiner Schwester.«

      Großonkel János erfährt es nicht, wie wir auf die Lösungen gekommen sind, er verurteilt uns aber nie wieder zum Rätselraten.

      Die Schwester, die auch Klára heißt wie die Mutter, ist viele Jahre älter als Laci und arbeitet als Sekretärin in einer Bank in Eger. Sie sieht immer aus, als würde sie geradewegs vom Laufsteg einer Modenschau kommen. Ich finde sie schön. Mein Onkel Béla, der zehn Jahre jüngere Bruder meines Vaters, auch. Laci sagt, die dürfen auch nicht heiraten, weil sie noch näher miteinander verwandt seien als wir.

      Das Abhärten hilft. Mich erschreckt fast nichts mehr. Laci ist stolz auf sein Werk, aber er kann nicht mehr so oft mit mir trainieren, weil er tagsüber in die Schule muß. Und im nächsten Schuljahr stecken die Eltern ihn ins Internat. Danach sehe ich ihn kaum noch. Nur in den großen Ferien, aber die große Vertrautheit kleiner Kinder ist nicht mehr da. Sie ist mit der frühen Kindheit, wie ein flügge gewordener Vogel, auf und davon.

      Der Aufstand

      In Budapest ist ein Aufstand im Gange“, sagt Vater ein paar Tage nach meiner Rückkehr mit Mutter aus der Hauptstadt. "Es wird geschossen, viele Schaufenster sind kaputt." Daß auch auf Menschen geschossen wird, erwähnt er nicht.

      Ich höre nur Schaufenster und denke an die Puppe mit den braunen Locken und blauen Augen und heule; sie ist bestimmt auch kaputtgegangen bei der Schießerei.

      Aus dem Radio kommen spärliche Nachrichten, die genaueren erfährt man durch Mundpropaganda. Allerdings nur hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton. Jeder hat Angst, niemand weiß genau, was in Budapest passiert und wann die Ereignisse auch auf unser Provinznest ihre Schatten werfen.

      Großonkel János und mein Vater vertreiben sich die Zeit der Ungewißheit mit Schabernack. Sie organisieren ein Radiogehäuse ohne Innereien und verbergen sich in der guten Stube. Über ein verstecktes Mikrofon verbreiten sie vom Nebenzimmer aus haarsträubend falsche Nachrichten über die Lage der Nation. Vor dem Gerät sitzen Eingeweihte und Unaufgeklärte in schönster Eintracht.

      Einer der unaufgeklärten Zuhörer ist ein Spitzel. Noch in derselben Nacht werden Großonkel und Vater zum Verhör abgeholt. Danach an vielen Abenden. Dann kommt Großonkel János eines Abends nicht mehr nach Hause. Er bleibt zwei Jahre weg und als er zurückkehrt, sind seine Haare fast weiß, er hustet, atmet schwer und mindestens zwei Jahre noch ist er sehr krank.

      Der Sohn von Großvaters jüngster Schwester studiert in der Zeit in Sopron an der Hochschule für Forstwirtschaft. Er hätte die Kommilitonen aufgewiegelt, heißt es in der Amtssprache, deshalb traut er sich nicht mehr nach Hause. Mit vielen anderen Studenten verläßt er das Land und geht nach Kanada. Er lebt heute noch dort.

      »Die Amis und der ganze Westen haben uns fallengelassen, obwohl sie uns aufgestachelt haben, einen Aufstand zu machen. Und als Hilfe notwendig gewesen wäre, haben sie den Schwanz eingezogen. Wie konnten sie es nur zulassen, daß russische Panzer in die Menge schießen?«

      Das sind Kommentare und Fragen der Leute im Dorf über die Ereignisse. Während meiner Schulzeit wird das Thema offiziell totgeschwiegen. Aber es gibt kaum eine Familie, die nicht in irgendeiner Form von den Folgen des Aufstands betroffen ist. Selbst unser Dreitausendseelendorf hat viele Dissidenten zu verzeichnen. In jener Zeit geht das Lied Heimweh um im Land, jedes kleine Kind kann es singen. Viele der Emigranten, die meisten leben in den USA, finden sich im Ausland schwer zurecht, aber mindestens genau so viele loben das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie schreiben angeberische Briefe und schicken den Daheimgebliebenen Pakete mit begehrtem Inhalt. Unsere Familie hat keinen Dissidenten, also bekommt sie auch keine Pakete aus Amerika oder von sonstwo.

      Eine Mutter mit vielen Kindern kommt aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zurück und wird nicht nur in unserem Dorf, sondern landesweit als leuchtendes Beispiel von richtiger Besinnung und politischer Reue vorgeführt. Der Mann der armen Frau hätte die Familie wegen eines Flittchens verlassen und sowas gebe es ja nur im Sündenbabel Westen. Die Familie bekommt ein großes Haus von der Gemeinde gestellt, die Kinder werden mit neuen Kleidern ausgestattet; man läßt sich schließlich nicht lumpen! Und die Medien berichten eine ganze Weile fleißig.

      Nach einem Jahr ist der Rummel vorbei, die Kinder sind aus den neuen Kleidern herausgewachsen, im Haus Dielen und alles Brennbare verheizt. Die Mutter trinkt wie vor ihrer Flucht - allerdings damals mit ihrem Ehemann zusammen - und wird behördlich belangt, weil sie ihre Kinder nicht regelmäßig in die Schule schickt. Daß zwei der älteren Töchter dem ältesten Gewerbe der Welt nachgehen und damit die Familie ernähren, findet in den amtlichen Berichten keine Erwähnung.

      Stille Nacht

      Großmutter läßt sich von der politischen Lage der Nation samt Dissidenten- und Rückkehrerschicksale nicht beeindrucken. Sie rückt Möbel, weil sie ein Ungetüm von Webstuhl mit gedrechselten Säulen aufstellen lassen will. Ihre zierlichen, weißlasierten Möbelstücke, die ihr verstorbener Bruder, Gott sei seiner Seele gnädig, ihr als Hochzeitsgeschenk gezimmert hatte, Tisch, Hocker, Regal und Schränkchen, müssen weichen, sie werden an der Wand aufgereiht. Früher hat Großmutter grobe Leinenwäsche gewebt und die schmalen Stoffbahnen mit einer Naht in der Mitte verbunden. Bei Bettüchern eine praktische, aber im Wortsinne drückende Angelegenheit.

      In diesem Winter will Großmutter Flickenteppiche weben. Sie hat bei einer Textilfirma säckeweise Stoffreste bestellt und wir müssen die Stoffstücke erst zu Fäden schneiden. Großmutter zeigt mir, wie es geht. Wenn sie es nicht sieht, sichere ich ein paar größere Stücke für meine Puppe, die ich hoffe, unter dem Weihnachtsbaum zu finden. Doch die Puppenlappen verschwinden am nächsten Morgen schon aus meiner Kiste. "Die sind viel zu schade für solche Kindereien", erklärt Großmutter und ich verstecke wieder ein paar Stoffstücke, die sie wieder findet und beschlagnahmt.

      Der Webstuhl wird mit den Kettfäden bespannt, das sind die Längsfäden aus fester Baumwolle. Der Schuß, das sind die Querfäden, in dem Fall unsere zerschnittenen Stoffe, werden auf Schiffchen gewickelt und zwischen die Kettfäden geschoben. Der Webstuhl hat einen Tritt und es rattert laut, wenn Großmutter die Stellung wechselt, damit die Kettfäden versetzt über die Querfäden kommen, um diese festzuhalten. Ein Muster gibt es nicht, die Stoffäden werden kunterbunt aneinandergeknüpft und auf die Schiffchen gewickelt. Wir weben, wie es kommt. Das Ergebnis unserer Arbeit sind Läufer und kleinere Teppiche. Ich darf auch einen kleinen für mich behalten, als ersten Arbeitslohn.

      Während ich Großmutter beim Aufschneiden der Stoffstücke helfe, singt sie und beklagt, daß ich kein Gehör hätte. Sie meint kein musikalisches. Großmutter hat eine Stimme wie ein Engel, hoch und klar, ohne Schnörkel, schön. Ich versuche sie nachzuahmen, aber mir rutschen immer die Töne weg.

      »Schade«, sagt Großmutter nur und damit ist für sie meine musikalische Erziehung beendet. In ihrer und der Familie meines Großvaters gibt es nur Leute mit gutem Gehör, sagt sie. Was die Familie meiner Mutter angeht, weiß sie allerdings nichts Genaueres...

      Überall, wo ich allein bin und meine Stimme herauslassen kann, singe ich aus voller Kehle. Meistens falsch. Mein Übungsstück ist das Weihnachtslied Stille Nacht. Es ist kurz vor Weihnachten. Die Tage vergehen, ich bin schon heiser, aber immer noch nicht gutgehörig. Doch eines nachmittags, einen Tag vor Heiligabend, singe ich fehlerfrei Stille Nacht. Ich kann es nicht fassen und versuche es wieder und wieder. Einmal in der richtigen Spur, bleibe ich darin, für immer. Ich stimme ein