Er hatte gerade ein neues Volk Bienen absondern wollen, das Häuschen war schon bezugsfertig und die Königin flugbereit. Nur Vater war im entscheidenden Augenblick nicht zur Stelle. Dafür spielte ich im Garten, auch mit den Bienen. Und als Vater es mitbekam, waren meine bekleideten und unbekleideten Körperteile voller summender Insekten und es kamen immer mehr hinzu. Vaters Erzählung erfährt bei jeder Wiedergabe neue, überraschende Wendungen und immer ein bißchen mehr Dramatik. Demnach stand ich heldenhaft und bewegungslos da, bis er, mit Schutzhaube und Handschuhen bewaffnet, zu mir zurückkam. Zum Glück entdeckte er bald die Königin und nachdem er sie einfing, flog das Volk bereitwillig hinterher in das bereits vorbereitete Häuschen. Er versäumt es nicht, jedesmal zu erwähnen, daß er meine hysterisch schreiende Mutter ins Haus einsperren mußte, um mich gefahrlos von den Bienen befreien zu können. Daß er mit Mutter ausnahmsweise nicht schimpfte, weil sie an am selben Abend noch in der Kirche, aus Dankbarkeit über den glücklichen Ausgang der Geschichte, ein paar Kerzen abbrennen ließ, verschweigt er.
Die selbständige Idylle meiner Eltern währt nicht lange. Als Großvater das Bett nicht mehr verlassen kann, übernimmt Vater, ganz der gehorsame älteste Sohn, den Hof und die übriggebliebenen Felder. Nun leben meine Eltern, um zwei Kinder vermehrt, weil zwischendurch, ein gutes Jahr nach mir, auch noch mein Bruder geboren wird, wieder im Haus der Großeltern. Die beiden Räume zur Straße, gute Stube und Wohnküche, gehören uns. Obwohl die Stube größer ist, spielt sich das Leben in der Küche ab. Erst später werden meine Eltern in dem größeren Raum ein Wohn-Schlafzimmer einrichten.
Kleiner Bruder, große Klappe
In der Küche steht seit kurzem ein Radio, ein großer Kasten aus Holz mit Stoffbespannung an der Vorderseite und einem großen Knopf zum Drehen. Wenn der Apparat eingeschaltet ist, leuchtet die Scheibe, hinter der man einen Zeiger hin- und herbewegen kann, in Grün. Eine Farbe, die uns Kinder magisch anzieht. Wir dürfen zwar das Radio offiziell nicht einschalten, aber wenn die Eltern es nicht sehen, tun wir es doch. Beim Drehen des großen Knopfes kommen seltsame Geräusche aus dem Kasten, wir spielen damit Stimmen aus dem Weltall.
»Sind das Gespenster?« fragt mein Bruder. Er fürchtet sich. Öcsi, das ist eigentlich kein Name, es bedeutet jüngerer Bruder, ist ein gutes Jahr jünger als ich und ein Muttersöhnchen. Wenn unsere Mutter einkaufen geht, rennt er heulend hinterher, er kann ohne sie nicht sein. Seitdem andere Kinder über ihn lachen, lache ich ihn nicht mehr aus. Die sagen, er ist doof. Mein Bruder ist anders.
Mit knapp einem Jahr kam er ins Krankenhaus.
»Man hat Experimente mit ihm gemacht«, flüstert Mutter geheimnisvoll, aber meistens im Beisein des Bruders.
»Und stellt euch vor, als wir ihn wieder nach Hause holten, war sein Kopf voller Stiche, von Injektionsnadeln, ja. Seitdem ist etwas mit ihm nicht in Ordnung«.
Das ist die Mutter-Version.
Ein anderer Grund für das Anderssein meines Bruders ist der Sturz: Mein Bruder war so um die drei Jahre alt, Großvater schon gelähmt und Öcsi unbeaufsichtigt bei ihm. Er spielte mit Streichhölzern. Großmutter hielt sich bei uns in der Küche auf, als Großvater rüberbrüllte: »Róza! Bring diesen kleinen Teufel weg, sonst fackelt er noch das Haus ab!«
Großmutter rannte hinüber. Der Flur war dunkel und der Boden betonhart. Dort schlug mein Bruder mit dem Kopf auf, weil Großmutter ihn umrannte. Das ist die zweite, gemeinsame Version der Eltern und mittlerweile Familienlegende.
Auf einer ganz frühen Fotografie von uns beiden trägt mein kleiner Bruder einen zarten blonden Flaum auf dem Kopf, seine Augen schauen ängstlich, wie auch jetzt, und sein Gesichtsausdruck widerspricht beiden Versionen: der der Mutter und der gemeinsamen der Eltern.
Mein Bruder hat trotzdem eine große Klappe, wenn er mit mir zusammen ist und wir anderen Kindern begegnen. Wenn ich dann allein unterwegs bin, muß ich für seine Frechheiten büßen: Größere Jungs ziehen an meinen Haaren und drohen, mich zu verprügeln. Ich muß dagegen etwas unternehmen.
Erster Schritt meines selbstausgedachten Selbstverteidigungsprogramms ist das Klettern. Bäume, Mauern und Zäune, wo man sich hinretten kann, gibt es fast überall. Unser alter Birnbaum, den ich als ersten Trainingsort auserwähle, meint es nicht freundlich mit mir. Seine knorrigen Zweige verhaken sich in meinen Haaren, schieben sich unter eine dicke Strähne, der Ast unter mir knickt weg. Ich hänge an der Haarsträhne in der Luft. Nicht sehr lange, aber es tut weh. Irgendwann lande ich auf dem Boden, die Gartenerde ist weich. Nur mein Kopf schmerzt.
»Das Kind hat kreisrunden Haarausfall!« Großmutter schreit vor Schreck beim morgendlichen Kämmen und stellt auch gleich die genaue Diagnose. Sie will mich zum Dorfarzt schleppen, ich will aber nicht. Mir reicht es, daß ich weiß, woher mein kreisrunder Haarausfall kommt.
Großmutter ist beleidigt. Gern hätte sie vor dem Doktor ihre Diagnose wiederholt, aber ich sperre mich. Sie schimpft, ich bin ungezogen und undankbar, sagt sie, und ihr fallen noch ein paar Un-Wörter ein. Also gehe ich mit.
Die Praxis ist voll, die Leute haben im Spätherbst Zeit, krank zu spielen. Großmutter tauscht die neuesten Erkenntnisse über rheumatische Beschwerden mit ihren Sitznachbarn aus, Kleinkinder schreien, größere spielen und rennen zwischen den Stühlen und um den Tisch in der Mitte herum. Wir sind fast als letzte dran.
Der alte Doktor kennt mich, wie er jeden hier kennt, der junge, sein Sohn, wäre mir lieber gewesen. Bei ihm war ich auch schon allein, als ich mein Knie beim Sturz vom Fahrrad des Vaters ramponiert habe. Ich beschließe, bei der Version des kreisrunden Haarausfalls zu bleiben. Der Alte ist mißtrauisch, kriegt aber keinen Ton aus mir heraus; ich lasse Großmutter reden. Die Salbe holen wir gemeinsam in der Apotheke ab, sie muß eigens für mich zusammengerührt werden. Die Aufmerksamkeit, die die Familie meiner kahlen Stelle auf dem Kopf widmet, ist mir peinlich. Schlimm ist auch, daß ich in den nächsten Tagen meine Ausbildung in Selbstverteidigung nicht weiter betreiben kann.
Laci, mein Großcousin, der Sohn von Großtante Klára und Großonkel János, ist fünf Jahre älter und verliebt in mich. Ich auch in ihn, aber Großmutter beeilt sich, uns aufzuklären, als wir unsere Absicht kundtun, daß wir so bald es geht, heiraten wollen: »Das geht nicht bei so nahen Verwandten.«
Wir glauben ihr nicht. Laci fragt seine Mutter und auch die Großmutter. Er berichtet mir, die hätten das gleiche gesagt wie meine Großmutter.
Dann müssen wir auf eine einsame Insel, entscheidet Laci unser Schicksal. Er liest schon Bücher, darum weiß er, was eine einsame Insel ist.
Laci bringt mir Jungsausdrücke bei. Der erste Test verläuft positiv. Die Jungs, die mich wegen der Frechheiten meines Bruders verhauen wollen, sind verblüfft und trollen sich. Doch bei den nächsten Malen kann ich ihnen nichts Neues mehr bieten. Sie verfolgen mich weiter.
Ich muß dich eben abhärten, sagt Laci. Er lauert mir an unerwarteten Plätzen auf und versucht, mich zu erschrecken. Einmal gelingt es ihm so gründlich, daß ich die ganze Nachbarschaft zusammenschreie. Es nützt nichts, daß ich Großmutter, die mein Schreien mitbekommt, erkläre, was wir machen, sie verpetzt uns bei Großonkel János. Er soll uns gehörig die Leviten lesen, von wegen abhärten!
Der Großonkel sitzt auf der Bank in der Küche und liest Zeitung. Er tut jedenfalls so, als würde er lesen. Was sei das gewesen, mit dem Erschrecken, das sollten wir ihm schon erklären, fordert er uns auf. Wir erklären es ihm. Onkel János sieht fast so aus wie mein Großvater und entgegen Großmutters genauen Befundes, was sein kaltes Herz angeht, lächelt er genauso wie Großvater gelächelt hat.
»Was soll