»Und jetzt schleppt sie das Kind auch noch jeden Tag auf den Friedhof«, murrt Vater.
»Sie geht freiwillig mit«, versucht Mutter zu schlichten, Vater aber läßt sich nicht mehr bremsen. Er flucht, daß das zarte Grün der Bäume im Garten errötet.
»Sie machen das Kind noch völlig fertig, mit Ihrer Gottanbeterei und mit dem ganzen Kirchenhokuspokus«, beschimpft er die Großmutter.
Die Höflichkeit seiner Generation, und das nicht nur in einem kleinen Dorf wie unseres, schreibt das Siezen der Eltern vor. Diese Ehrerbietung ist für Vater aber kein Hinderungsgrund, um mit seiner Mutter abzurechnen. Von der Kirche hält er nichts, von den verlogenen Pfaffen noch weniger und das Gotteshaus habe er seit seiner Eheschließung nicht mehr betreten. Worauf er stolz sei.
Die Hochzeit meiner Eltern fand im Kriegsjahr 1944 statt, in einer idyllischen kleinen Kapelle in Buda, von der Vater später mit mehr Wohlwollen spricht als jetzt von der Kirche im allgemeinen. Er ist ein überzeugter Atheist, betont er bei jeder Gelegenheit.
»Ein Ungläubiger«, sagt Großmutter verächtlich.
»Was ist ein Ungläubiger, Großmutter?«
»Das ist einer, der nicht an Gott glaubt und nicht betet und nicht in die Kirche geht. Dafür wird Gott ihn strafen.«
Großmutter sät manch unguten Samen in meinen aufnahmebereiten Kindesacker. Es kostet mich in Erwachsenenjahren viel Mühe, die vielen Kukuckspflanzen von den eigenen zu unterscheiden. Aber Großmutter sät auch eine Menge Praktisches. Das Nützliche allerdings ist nicht geistiger Natur. Großmutter ist die Hüterin von Traditionellem und Wichtigem, sie kann fast alles, was man mit zwei Händen bewerkstelligen kann und schenkt großzügig ihr Wissen der Enkelin.
Die Mutter meiner Mutter starb, als Mutter sechs Jahre alt war und die Stiefgroßmutter, die nur ein kurzes Gastspiel bei uns gab, war eine alte Hexe und geisterte eine ganze Weile nur als böses Gespenst in den Erzählungen meiner Mutter. Leibhaftig erscheint sie erst später auf der familiären Bildfläche.
Dörfliche Idylle
Der Ort, wo sich das Bisherige und fast alles Spätere abspielt, ist ein Dorf im Nordosten Ungarns. Unser Dorf ist viel größer als andere in der Gegend. Die anderen bestehen nur aus einer langen Hautpstraße: Man fährt an dem einen Ende hinein, dann immer geradeaus und wenn das zweite Ortsschild im Blickfeld auftaucht, ist man auch schon wieder draußen.
Unser Dorf hingegen hat ein ganzes Gespinst aus Straßen und Gassen, die allesamt nach Dichtern und Freiheitskämpfern der zahlreichen Unabhängigkeitsbewegungen Ungarns benannt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg auch nach den Helden des Arbeitskampfes und politischen Größen der jüngsten Geschichte. Die Hauptstraße, die genauso heißt wie alle Hauptstraßen der umliegenden Dörfer, ist die einzige asphaltierte, die anderen sind nur notdürftig befestigt. Kopfsteinpflaster gibt es bei uns nicht, größere und kleinere Kieselsteine ragen aus dem sandigen Boden hervor und rütteln die Pferdewagen ordentlich durch. Mit denen befördern die Bauern Heu, Mist, Saatgut, Korn, Mais, Kartoffeln und außerordentlich selten Ausflügler ins Grüne.
Glücklich ist, wer auf einem mit Heu und Stroh beladenen Wagen mitfahren darf. Der kommt sich vor wie ein König auf dem Thron, der obendrein noch auf vier Rädern von meistens zwei Pferden gezogen wird. Nur hin und wieder steigt der Dampf von frischen Pferdeäpfeln nach oben, aber das kann die Nase der Wagenmajestäten nicht beleidigen, denn gegen soviel duftendes Heu behauptet sich der Roßapfeldunst nicht lange; er ist im Nu auf und davon. Verflogen.
An den Hängen von zwei Gebirgen, Ausläufer der Karpaten, gedeiht ein guter Wein, der den Charakter der Umgebung bestimmt. Die meisten Bauern besitzen Weinfelder und große kühle Weinkeller in den traditionell gebauten, langgezogenen Landhäusern. Die meisten haben eine überdachte, mit einer meterhohen Mauer eingegrenzte und mit Säulen unterteilte Veranda, tornác genannt. Davor rankt bis zum Dachfirst Wein hoch, den man gleich zum Essen ernten kann, ohne auf die Felder zu gehen.
Der Wein spielt in unserer Gegend die Hauptrolle. Vom frühen Frühjahr bis zum Spätherbst werden die Rebstöcke gehätschelt, beschnitten, hochgebunden, vor Schädlingen geschützt, und der Boden wird zwischen den Reihen regelmäßig aufgelockert. Die Tage nach der Blüte, wenn die Beeren ansetzen, sind heikel, besonders, wenn es Spätfröste gibt. Ein stetiger Grund zur Sorge ist ein zu feuchter, warmer Sommer. Und wenn die ersten Trauben zu reifen beginnen, beten die Bauern, daß das Wetter bis zur Lese sonnig und trocken bleiben möge. Soviel Fürsorge lassen sie ihren Kindern selten angedeihen.
Auch nach der Ernte wird der Wein mit viel Aufmerksamkeit bedacht, wenn die Trauben gepreßt und der junge Wein in den großen Holzfässern gärt. Dann darf man nur mit einer brennenden Kerze in den Keller. Wenn die Flamme erlischt, empfiehlt es sich, schleunigst an die frische Luft zu gehen. Manch benebelter Winzer oder unbedachtes Kind überlebt eine solche Exkursion in den Hades der Weinkeller nicht.
Nachdem der junge Wein sich abreagiert hat, wird er domestiziert. Das ist die Hohe Schule des Kelterns. Hierbei entscheidet es sich, ob aus der Ernte des jeweiligen Jahres Weinessig oder ein Qualitätswein wird. Großonkel János keltert gewöhnlich Weinessig, behaupten Großvater und Vater einvernehmlich, und wenn dieser hin und wieder eine glückliche Hand an den Wein anlegt, kommt bestenfalls eine trübe hefige Brühe dabei heraus, bei der man die nachträgliche Zuckerung herausschmeckt. Großvater hatte mit Vergnügen über den Wein seines Bruders gelästert, dessen Kaufkundschaft hauptsächlich aus der oberen Region, aus dem Norden des Landes kam. Das waren Bergleute, die keine Ahnung von echter Qualität hatten.
Großvater bekam regelmäßig Besuch von Freunden, wenn der junge Wein bereits genießbar war. Er hatte im Spätherbst und Winter erstaunlich viele Freunde. Mit ihnen verschwand er am Vormittag im Weinkeller, tauchte vergnügt und mit einer verräterisch roten Nase zum Mittagessen auf, um danach wieder einen Ausflug in Gesellschaft in die Unterwelt zu wagen. Am Abend waren Großvater und Freunde nicht mehr ganz sicher auf den Beinen und kamen sie von außerhalb, konnte man ihre Rückreise nicht verantworten. Also blieben sie zum Frühstück am nächsten Tag. So erzählt es immer wieder Großmutter.
Unser Weinkeller, den Urgroßvater angelegt hat, ist vollständig erhalten. Die Wände sind mit großen Natursteinquadern gemauert, an denen entlang die Fässer in allen Größen aufgereiht sind. Auf den oberen Treppenstufen und einer Ablage überwintern die Geranien und von der gewölbten Decke hängen die gebündelten Knollen von Dahlien und Gladiolen. Auf halber Höhe des Treppenabgangs ist der kleine Kartoffelkeller. Hier hätten sich die Frauen in den letzten Kriegstagen versteckt, erzählt Großmutter, sie hatte man für ein paar Tage eingemauert. Und damit sie nicht erstickten, hatte man ein Loch durch die Decke des Kellers zur Kornkammer geschlagen, und ein Lüftungsrohr eingeschoben. Das Loch dort ist heute noch zu sehen.
Die Straße, in der unser Haus steht, hat zwar einen amtlichen Namen, sie wurde nach einem berühmten Dichter benannt, trotzdem kennt sie jeder im Dorf nur als Rübenzeile. Die Mártons stammen ursprünglich aus der ungarischen Tiefebene und haben dort offenbar Rüben angebaut. Ob Zucker- oder Futterrüben, das weiß niemand mehr oder will niemand es genau wissen; Wein zu kultivieren ist eine weit höhere Aufgabe als sich mit gewöhnlichen Rüben abzugeben. So erinnert nur noch der Spitzname an die einstige Hauptbeschäftigung meiner Vorfahren.
Vor fast allen Häusern der Straße steht die kleine Bank, der Ausruh- und Ausschauplatz der Alten. Am Sonntagnachmittag sitzt vor jedem Haus ein altes Mütterchen in Schwarz oder ein alter Mann mit blankgeputzten Stiefeln und Hut und lassen sich von den Vorbeigehenden grüßen.
»Ruhen Sie sich aus, Onkel János oder Tante Teréz?« fragen sie. Und obwohl sie sehen, daß die Alten offensichtlich nichts anderes tun als dort zu sitzen und sich auszuruhen, empfiehlt es die Höflichkeit, danach zu fragen. Vielleicht auch noch nach der werten Gesundheit, wobei der Fragende sich etwas mehr Zeit für die Antwort der Alten nehmen sollte, denn das Thema kann mit zwei, drei Sätzen nicht abgehandelt werden. Die kleine Bank der Alten ist wie ein Logenplatz im Theater, den man sich mit jahrzehntelanger mühevoller Arbeit verdienen