Das schwarze Schaf
Onkel Gábor, von allen Gabi genannt, ist das schwarze Schaf der Familie, das hat mir Vater gesagt. Warum nur er das schwarze Schaf sein soll, kann ich mir nicht erklären, denn die anderen beiden Brüder, mein Vater und auch mein jüngerer Onkel, haben auch schwarze Haare. Onkel Gabi ist aber der Liebling der Kinder, seine Besuche sind für uns besondere Feste. Er wohnt mit seiner verrückten Frau, die von der Familie nur die Gräfin genannt wird, und mit seiner Tochter Scarlett in der Hauptstadt. Schon allein die Tatsache, daß er in Budapest wohnt, flößt uns Respekt ein.
Meine Cousine ist nur wenige Wochen älter als ich, sieht aber, im Gegensatz zu mir, wie ein Engel aus. Sie hat honigblonde Locken, trägt immer schwarze Lackschuhe mit Riemchen, mit fünf Jahren modische Kleider, nicht das, was wir Dorfkinder kennen. Mit meiner Mutter war ich schon mehrere Male in Budapest, habe mir dort an vielen Schaufensterscheiben in der Innenstadt die Nase plattgedrückt, so kann ich beurteilen, daß meine Cousine einfach anders aussieht als wir in unserem Dorf und auch ganz anders als die Kinder in der nächstgelegenen größeren Stadt Eger. Die Fotografie, die Onkel Gabi überall ungefragt hervorholt, zeigt ihn, meine angeheiratete Tante Serena und die Tochter Scarlett.
Wenn in der Familie jemand den Namen der Tochter so ausspricht wie er geschrieben wird, korrigiert Onkel Gabi sofort:
»Das ist falsch, es ist ein amerikanischer Name. Meine Tochter heißt Skaaahlett. Das a spricht man ganz lang aus.«
Für die Dorfbewohner, die Onkel Gábor samt seiner Familie für reichlich spleenig halten, heißt die Tochter einfach Schkarlett. Onkel Gábor gibt es auf, den ungebildeten Bauern ein Minimum an Amerikanisch beizubringen. Trotzdem sitzt er abends mit ihnen in der Eckkneipe und spielt Karten, trinkt Bier, diskutiert über Gott und die Welt und kommt erst nach Hause, wenn mein Vater und die Großmutter schon zum Viehfüttern aufstehen.
»Der Herr Graf ist auch schon aufgestanden«, sagt Vater zu Großmutter, denn direkt spricht er seinen Bruder nicht an.
»Gönn ihm das doch, schließlich arbeitet der Ärmste während der ganzen Woche in der Fabrik«, entschuldigt Großmutter ihr schwarzes Schaf vor dem ältesten Sohn.
»Und wer gönnt mir mal eine Ruhepause am Sonntag?« Vater ist ungehalten über das milde Licht, das Großmutter für den zweitältesten Sohn anknipst. »Wer bedauert mich, daß ich sieben Tage die Woche von früh bis spät auf den Beinen bin? Ist denn meine Arbeit weniger wert als die von diesem Angeber?«
Vater ist nicht gut auf Onkel Gabi zu sprechen, weil der es versäumte, sich von Großvater noch zu Lebzeiten zu verabschieden. Obwohl Vater ihm viele Briefe schrieb, kam er nicht und stellte seine Tochter dem Großvater nicht vor. Er, der Onkel, hätte sich der Schwägerin gegenüber durchsetzen und mit der Enkeltochter den Großvater besuchen müssen, sagt Vater. Nach Großvaters Beerdigung, als alle sich frierend in der guten Stube einfanden, entbrannte zwischen den Brüdern ein erbitterter Streit. Vater schwor an dem Tag, mit Onkel Gábor kein Wort mehr zu wechseln, das wäre er dem verstorbenen Vater schuldig, der auf dem Sterbebett vergeblich auf den zweiten Sohn und die Enkeltochter gewartet hätte.
Onkel Gabi ist nicht so stolz wie Vater, er spricht den älteren Bruder jedesmal direkt an, wenn er da ist. Vater aber ist standhaft und erwidert weder den Gruß noch antwortet er auf irgendeine Frage, und bekommt regelmäßig Magenkrämpfe, wenn Onkel Gabi kommt. Das hätte eine andere Ursache, erklärt Vater seine Symptome. Wenn der Herr Graf sich bequemt, seinen Heimatort zu besuchen, nimmt Großmutter besonders viel Fett zum Kochen, behauptet Vater. Das ist der Grund für seine Beschwerden.
»Gönnst du ihm nicht mal die paar Bissen? Siehst du denn nicht, wie dünn er ist? Er war doch so lange krank«, entschuldigt Großmutter den Onkel.
Onkel Gabi kam aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien bis auf das Skelett abgemagert und mit Tbc infiziert heim. Noch Jahre danach muß er täglich eine Handvoll Pillen schlucken. Wir bitten ihn, uns zu zeigen, wie man das macht. Mein Bruder und ich haben schon Schwierigkeiten, eine einzige Tablette hinunterzubekommen, wenn es nötig ist. Onkel Gabi zeigt es uns. Er schüttet acht rosafarbene Pillen in die Handfläche, nimmt einen Schluck Wasser in den Mund, legt den Kopf mit einer schnellen Bewegung nach hinten, schluckt kurz und die Pillen sind weg.
»Glaub ich nicht«, sagt mein Bruder, »zeig mal, wo du sie versteckt hast«.
Der Onkel macht den Mund weit auf, daß alle seine Goldzähne blitzen, aber von den Tabletten ist keine Spur mehr zu sehen. Mein Bruder untersucht noch seine Wangen, drückt mit den Fingern von außen dagegen, um zu fühlen, ob der trickreiche Onkel nicht doch noch ein paar der rosafarbenen Dinger in der Backentasche bunkert, findet aber nichts.
Danach übt er mit uns das Pillenschlucken mit den kleinen Zitronensäuretabletten, die mangels frischer Zitronen als Ersatz im morgendlichen Tee aufgelöst werden. Eine neue Gelegenheit für Vater über den Bruder zu meckern, als er uns beim Pillenschluckentraining erwischt.
Onkel Gabi schüttelt das Geschimpfe des älteren Bruders ab wie Hunde das Wasser, wenn sie wieder im Trockenen sind und erzählt uns, was er alles während der Bahnfahrt von Budapest zu unserem Dorf gefunden habe. Wie ein Zauberer im Zirkus holt er aus seinen diversen Taschen Streichhölzer, Murmeln, Fahrkarte, Zigaretten, Kleingeld, und die alltäglichen Dinge verwandeln sich in seinen Händen. Ganz normale Münzen werden zu Zaubertalern, Streichhölzer zu Feenlicht, Glasmurmel zu Wahrsagekugel und was ihm sonst noch so einfällt. Seine Geschichten sind so real und gleichzeitig so märchenhaft, daß wir über ihren Wahrheitsgehalt erst nachdenken, wenn der Onkel längst wieder in der Bahn sitzt und sich schlafend erholt von den Strapazen des Aufenthalts bei uns samt Kneipenbesuch und Auftritten als Zauberer für Neffen und Nichte.
Und weil seine Besuche keiner nachvollziehbaren Regel folgen, ist sein Auftauchen immer eine Überraschung. Mein Bruder und ich schlafen oft mit dem Wunsch ein, daß wenn wir am nächsten Morgen aufwachen, möge Onkel Gabi mit der Großmutter in der Küche sitzen, bergeweise Rühreier mit Speck zum Frühstück verschlingen und mit einer Extrascheibe Brot den Teller sauberwischen.
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