Einmal im Jahr die Sintflut ebook. Alana Maria Molnár. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alana Maria Molnár
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844236743
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schlägt er auch noch die dicke fensterlose Außentür aus Holz zu.

      »Wir müssen Großvater wecken, sonst holt er sich noch den Tod«, sage ich.

      »Den hat er schon«, antwortet Mutter und erschrickt.

      Draußen schimpft Großtante Klára, dem Anlaß entsprechend halblaut, mit Vater.

      »Nicht mal jetzt, wo doch dein Vater tot ist, könnt ihr euch anständig benehmen!«

      Ihr Spitzmausgesicht ist noch spitzer und der Mund noch schmaler als sonst, die Augen noch mehr gerötet. Sie quetscht sich ein paar Tränen aus den Wimpern. Sie beweint ihren Schwager, weil es sich so gehört. Den jüngeren Bruder ihres Mannes konnte sie nie richtig leiden, obwohl die beiden wie Zwillingsbrüder aussehen: groß, hager, weißhäutig, schwarzhaarig und blauäugig, beide tragen kleine Bärtchen unter der Nase, wie die kleinsten Bürsten in unserer Putzkiste, mit der man die Wichse auf die Schuhe schmiert.

      Meine kleine und runde Großmutter kann ihren Schwager auch nicht leiden, aber sie kann den Grund, im Gegensatz zu Großtante Klára, angeben: Großonkel János hat nämlich ein kaltes Herz. Das hat Großmutter mit ihrer analytischen Spürnase herausgefunden.

      »Wie der Mann im Märchen, du weißt«, sagte sie zu mir. Das Märchen hat sie mir nicht nur einmal vorgelesen, als ich noch nichts davon begreifen konnte.

      Also geht es in der Großfamilie stets gerecht zu und jedes einzelne Mitglied hat eine mehr oder weniger unerschütterliche Position inne. Mittels kleinerer und größerer Teufeliaden kann ein jeder auf der traditionellen Leiter eine Stufe höherklettern, dafür steigt ein anderer eben eine Stufe tiefer. Die Justitia der Großfamilien ist nicht blind wie die Göttin der Gerechtigkeit: sie guckt bei den ewigwährenden Zänkereien einfach weg. Aber sie weiß, was vor sich geht und sorgt dafür, daß jeder seine Strafe kriegt. Früher oder später.

      Großonkel János kriegte seine Strafe ziemlich spät dafür, daß er meinen Großeltern, meinen Eltern und damit auch uns, die Hälfte des Grundstücks, auf dem das Haus der Urgroßeltern heute noch steht, unter unserm Hintern weg verkauft hat. Er leidet an der Vergeßlichkeitskrankheit, heute sagt man Alzheimer dazu. Zum Schluß, denn er wird über neunzig, weiß er nicht einmal mehr, wer er ist. Das aber ist kein Trost für die Großmutter und die Eltern, sie grämen sich jeden Tag wegen der neuen Nachbarn, die nicht zur Großfamilie gehören und ihr Haus unverschämterweise genau vor unsere Nase gebaut haben, nur mit zwei Winzlingfenstern zu uns hin, obwohl zur anderen Seite jede Menge Platz ist. Großmutter wird es später tröstlich finden, daß Großvater das neue Nachbarhaus nicht mehr habe sehen müssen.

      Er liegt immer noch auf dem kalten Fußboden und keiner kümmert sich um ihn. Auch um mich nicht, so kann ich mich auf die Suche nach Großmutter machen. Wenn Mutter und Vater als Fragequellen versiegen, bekomme ich von der Großmutter wenigstens eine Antwort. Ich finde sie im Stall.

      Der einzige Ort, an dem sie Ruhe finde, sagt sie. Sie brauche Ruhe zum Weinen. Ihre Augen sind anders rot als bei Großtante Klára, das Weiße ihrer Augen ist rot, sogar das helle Wasserblau ist mit roten Äderchen durchzogen.

      »Mein Einziger, mein Liebster«, schluchzt sie, »warum hast du mich verlassen?«

      »Großvater liegt in der guten Stube und wird sich erkälten«, sage ich. Großmutters Weinen geht in ein langgezogenes Jammern über. Den Ton kenne ich.

      Großmutter nimmt mich nämlich heimlich, Mutter und Vater dürfen es nicht wissen, als Verstärkung zu Sterbebegleitungen mit. Verschrumpelte Mütterchen in schwarzen Kleidern und mit schwarzen Kopftüchern hocken auf Stühlen, die um das Bett herum aufgestellt sind. Dunkle, leise murmelnde Raben mit raschelndem Rosenkranz in den Händen. Perle um Perle rieselt durch die knotigen alten Finger, die Lippen formen kaum hörbare Gebete. Dazwischen das vorsichtige Kommen und Gehen von Angehörigen. Fast alle beugen sich zum Bett hinunter, flüstern etwas und gehen dann auf Zehenspitzen hinaus.

      Dann kommt ein Seufzen vom Bett herüber. Die Raben hören auf zu rascheln und zu lispeln. Derjenige, der am Kopfende des Bettes sitzt, schließt die Augen des Toten. Eine Stille im Raum, die man kaum beschreiben kann. Es ist wie das leise Schlagen von Vogelflügeln, aber aus der Ferne. Große weiße Vögel stelle ich mir dabei vor, die die Seele wegtragen. Das habe ich auf einer Abbildung in Büchern gesehen. Ich spüre die Anwesenheit von etwas, was ich nicht benennen kann, was mir aber keine Angst macht und nach einer Weile wird es kalt im Zimmer.

      Die verhalten betenden Raben erheben ihre Stimmen, sie fangen an zu jammern und zu wehklagen. Es ist kein richtiges Weinen und immer wieder gleich. Sie beklagen den Weggang des soeben Dahingeschiedenen und vermeiden das Wort Tod. Von Jenseits und Himmel ist die Rede und immer wieder von Gott, bei dem der Entschlafene gut aufgehoben sei, hoch oben, im Himmel.

      »Und was ist mit dem Fegefeuer?« frage ich Großmutter.

      Sie erzählte mir doch, daß Gestorbene zuerst dorthin kämen und daß es sich dort entscheidet, ob man im Himmel bei den Engeln Harfe spielen darf oder unten in der Hölle schmoren muß.

      »Nicht jetzt«, wimmelt mich Großmutter ab, »das erzähle ich dir später«.

      Dann wird der Dahingeschiedene gewaschen und für den letzten Gang angekleidet. Das Waschen und Ankleiden darf ich nicht mehr sehen, Großmutter sagt, das sei nichts für mich. Die Alten, die dem Jenseits schon näher seien als dem Diesseits, könnten das ruhig machen, denen mache das nichts aus und die meisten der Totenwäscherinnen hätten ihre Sterbehemden längst schon in der Kleidertruhe. Großmutter geht vor der Waschung jedesmal mit mir weg. Sie ist nicht so alt, daß sie für diese Dienste in Frage käme.

      »In der Nacht«, sagt jetzt Großmutter, »ist er dahingegangen.«

      »Warum hast du mich nicht geweckt?« frage ich.

      »Das ist nichts für Kinder.«

      Ich werde ihr nie verzeihen, daß ich Großvater nicht sehen durfte, bevor er starb. Das aber beschließe ich erst später, jetzt glaube ich noch, daß er wieder aufsteht, sich die lächerliche Hasenzahnwehbinde vom Kopf reißt, mich auf die Schultern hebt, um mit mir auf dem langen Flur entlangzugaloppieren. Ich glaube noch nicht, daß ich nicht mehr meine behandschuhten Hände über der Herdplatte ganz heiß werden lassen kann, um seine kalte und gelähmte rechte Seite zu wärmen. Ich glaube noch, am nächsten Abend sein Gesicht durch die hochliegende Fensterscheibe der Tür wieder zu sehen, die die Wohnküche meiner Eltern von der guten Stube der Großeltern trennt; nur um noch einmal nach mir zu sehen. Damit ich gut schlafe, denn mein Kinderbett steht vor dieser Tür.

      Mein Großvater wird aufgebahrt. Er liegt auf zwei zusammengestellten Tischen, so hoch, daß ich ihn nur sehen kann, wenn ich auf einen Hocker steige. Die schwarzen Raben sind jetzt überall im Haus, sie haben den dreiteiligen Spiegel mit einem Tuch verhängt. Damit Großvater keinen Schrecken bekomme, wenn er in den Spiegel schaut, sagen sie. Dann kann er also doch aufstehen, denke ich mit heimlichem Triumph, er tut nur so, als wäre er tot.

      Am selben Nachmittag bringen vier Männer eine große Holzkiste mit Goldverzierung und legen Großvater hinein und er läßt das alles mit sich geschehen. Über Nacht liegt er darin. Am nächsten Tag kommen viele Menschen und der Priester und tragen Großvaters Sarg auf den Friedhof. In ein tiefes Loch wird die Kiste hinuntergelassen und die ausgehobene Erde darübergeschaufelt. An einem Ende des Hügels, aus der Erde entstanden, die nicht mehr in das Loch hineinpaßt, stecken sie ein Holzkreuz mit goldenen Buchstaben.

      Vater sagt, daß der Name von Großvater darauf steht und die zwei Zahlen bedeuten das Jahr, in dem er geboren wurde und das, in dem er gestorben ist.

      Mein Großvater, József Márton, der Vater meines Vaters, ist mit 59 Jahren gestorben. Er hat von 1897-1956 gelebt.

      Großmutter geht jetzt jeden Tag auf den Friedhof und ich gehe mit, helfe ihr Blumen auf Großvater zu pflanzen und beim Gießen bin ich besonders eifrig. Es könnte ja sein, daß er aus den Blumen herauswächst. Obwohl ... ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wieviel Erde sie über ihn geschaufelt