Weiter hinten in der Studentenbude knallt als akustischer Kontrapunkt die Badezimmertür mit einem Krachen zu. Das Boylesche Statement zur Lage der Nation.
Message understood, denkt sich Yoav. Er wirft sich seine Lieblingsklamotten über, räumt die Wäsche aus der Küche weg und packt seinen braunen Lederbeutel schnell mit dem Allernötigsten zusammen. So viel Freude muss unbedingt geteilt werden, sagt er sich euphorisch. Was das bedeutet, ist klar: Espresso-Bar, Tonys Imbiss, alter Schlachthof, in dieser Reihenfolge, bitte. Schon lange hat er sich nicht mehr so fantastisch gefühlt. Und er kann sich beim besten Willen im Moment nichts Schöneres vorstellen als das besagte Programm für diesen heiligen, himmlischen Hammer von einem Sonntag zu absolvieren. Ich könnte die ganze Welt knutschen. Und ein paar Mädels gleich dazu. Breit grinsend verlässt er das Haus.
Gefallen
„Hallo, mein Junge!“, tönt es ihm freundlich entgegen, als er durch die Tür in die Imbissbude fällt. Der Laden ist wie fast immer prall gefüllt. „Das Übliche?“
„Danke, Tony. Ich probier´s mal heute mit dem Chicken Burger Spezial“, wirft ihm Yoav durch die Geräuschkulisse aus Braten, Schmatzen und Smalltalk entgegen. „Und einen Eistee, bitte.“
„Madonna mia, soviel Experimentierfreude auf einen Haufen, ich bin beeindruckt“, erwidert Tony mit einem Schmunzeln, als er zu ihm an die Theke kommt und sich die Hände an seiner Schürze abreibt, um ihn per Handschlag zu begrüßen. „Wie geht es dir heute, mein Junge? Du siehst blendend aus.“
„Ich fühle mich auch so. Du, Tony, könntest du mir eventuell einen Gefallen tun?“
„Aber sicher doch, gerne. Worum geht‘s?“
„Ich habe da einen obdachlosen Typen getroffen, ein anständiger, weiser, alter Mann, der abends immer am alten Schlachthof abhängt. Er hat mir geholfen, musst du wissen, und ich möchte gerne, dass wenn er mal bei dir vorbeikommt, du ihm alles gibst, was er will. Ich gebe dir dann das Geld wieder, beim nächsten Mal, versprochen. Aber bitte sag‘ ihm nichts davon. Er soll ruhig denken, dass es von dir kommt. Ich glaube sowieso nicht, dass er es groß in Anspruch nehmen wird. Aber du weißt schon, die Geste zählt. Sein Name ist übrigens Xavier.“
„Interessante Geschichte, würde gerne mehr darüber erfahren, wenn´s hier mal wieder ruhiger zugeht. Aber natürlich, geht klar. Du kannst dich auf mich verlassen“, antwortet Tony mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte Yoav ihn gerade um extra Senf gebeten. Er wendet sich schnell wieder den Burgern auf dem Bräter zu und fließt mit einem von Natur aus positiven Gemüt durch sein persönliches Refugium.
Tony ist wahrlich die gute Seele in dieser Gegend, stellt Yoav mit einem stolzen Gefühl in sich fest, nicht nur für mich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass diesen grandiosen Kerl irgendetwas aus der Ruhe bringen oder ihn dazu verleiten könnte, jemanden zu verurteilen oder abzulehnen, weil er nicht in das übliche 0815-Schema passt. Tonys Herz ist so weit wie der Ozean da draußen, und das Einzige, das ihn wirklich auf die Palme bringen könnte, ist Bösartigkeit oder wenn man sein Leben verschenkt, ohne das Beste daraus zu machen. Aber das ist jetzt ja nicht mehr nötig.
Im Nachhinein kommt es Yoav unglaublich vor, wie sich in den vergangenen drei Tagen alles dazu verschworen hat, damit er die richtige Entscheidung für sich fällt. Erst Tonys Predigt, dann der Alte, dann Boyle, dann Quincy und schließlich der Label-Typ. Es ist fast so, als habe sich sein Leben in diesen 72 Stunden einmal komplett gedreht und er sei plötzlich in es wieder hinein geboren worden, neu, unschuldig, ohne Ballast. Alles bekommt auf einmal einen Sinn, wird rund und irgendwie ganz, die Widersprüche, die er zuvor noch so stark empfunden hatte, lösen sich auf und er sieht sich und seinen weiteren Weg auf einmal so klar. Es ist, als sei in einem einzigen Augenblick ein helles, strahlendes Licht in das zuvor so trübe Halbdunkel in seinem Hirn gefallen sei und habe all die Schwere aufgelöst, die darin so lange gehaust hatte. In diesem Moment, dessen wird sich Yoav jetzt bewusst, ist er das erste Mal, seit er denken kann, glücklich. Mit diesem Gefühl blickt er dankbar zu Tony herüber, der ihm mit einem wissenden Lächeln antwortet. Wie hat Xavier so schön gesagt: Solche Freunde gibt es selten, halte sie in Ehren. Freunde, mit denen man sowohl Freude als auch Leid teilen kann und die einen blind verstehen.
Der exotische Chicken Burger Spezial ist inzwischen in seinem Magen gelandet und hat sich dort mit dem Eistee vermischt. Yoav winkt kurz zu Tony herüber, der das Signal für das übliche Mitbringsel sogleich versteht, und fünf Minuten später spurtet er mit seinem kulinarischen Köder bepackt los. Vielleicht bin ich heute zu früh, mutmaßt er, als er wie mittlerweile täglich um die Ecke zum Schlachthof einbiegt, aber erneut sitzt der Alte auf den Punkt genau an seinem Platz und genießt in gewohnter Position das Labsal der nachmittäglichen Sonne. Ich kenne niemanden, der dies mit einer solchen Hingabe tut, sagt sich Yoav erstaunt und entscheidet sich, ihn sich ab jetzt zum Vorbild zu nehmen. Ich habe noch so viel über das Leben zu kapieren und dieser alte Mann ist der beste Lehrer, den ich je hatte. Es ist für ihn deshalb selbstverständlich, dass er als Erster seine Begrüßung abgibt. „Hallo Xavier!“
„Hallo mein Junge! Ist es nicht wieder herrlich heute? Ich sitze schon seit einiger Zeit hier und lasse meine Seele baumeln. Ich sage dir, das ist der wahre Luxus.“
„Und ich hab‘ dir noch was dazu mitgebracht. Besonders lecker heute.“
„Ach, du bist ein Engel. Wie geht es Tony?“
„Es geht ihm wie immer sehr gut. Er lässt dich grüßen und dir ausrichten, dass du jederzeit herzlich willkommen bist“, erwidert Yoav stolz.
„Wie schön und wie überaus freundlich von ihm. Da hast du wirklich einen ganz besonderen Freund.“
„Ich weiß. Du musst einfach nur deinen Namen sagen und dann weiß er schon Bescheid. Falls wir uns mal wider Erwarten nicht treffen sollten“, setzt er ironisch hinterher.
„Das kann ich mir schon gar nicht mehr vorstellen, mein Junge. Ich hab mich so sehr an unsere schönen Gespräche gewöhnt.“
„Geht mir genauso. Ich hab‘ übrigens heute Morgen den Typ von dem Label angerufen“, platzt es aus Yoav heraus.
„Und? Was hat er gesagt?“
„Er hat sich offensichtlich gefreut und gemeint, wir müssten uns gleich morgen früh im Studio treffen und zusammen arbeiten.“
„Das ist ja fantastisch! Ich freue mich so für dich. Habe ich es dir nicht gesagt? Kein Zufall. Du musst nur die Chancen ergreifen, die auf dich zukommen.“
„Ich bin dir so dankbar für deinen Rat. Er kam absolut zum richtigen Zeitpunkt.“
„Es kommt immer alles zum richtigen Zeitpunkt, man braucht nur die Weisheit, das auch zu erkennen“, fügt der Alte lächelnd hinzu. „Aber keine Sorge, ich schaffe das auch nicht immer.“
„Ja, ja, look who´s talking…….. Aber egal. Worüber wollen wir heute philosophieren? Ich bin schon ganz Ohr.“
„Heute, mein lieber, junger Freund, heute muss ich dich um ein wenig Hilfe bitten.“
„Gerne. Aber was könnte ich denn schon für dich tun? Ich meine, brauchst du Geld oder eine Unterkunft oder so? Ich kann gerne mit Boyle quatschen, ich denke er hätte nichts dagegen, wenn du bei uns abhängst. Weißt du, Boyle ist ein toller Kerl, wenn auch etwas schräg, und deine Klamotten, na ja, die werden dann nicht mehr nach Schlachthof stinken, sondern nach Gras, wenn du weißt, was ich meine, und du müsstest mit einer Matratze in der Küche vorlieb nehmen, und dann müssten wir ein wenig aufpassen, wegen der Campus-Leitung und so, aber uns würde sicher etwas einfallen, du bist einfach mein Opa auf Besuch, aber sonst….“
„Immer mit der Ruhe, mein junger Freund, immer mit der Ruhe. Ich bin wirklich sehr gerührt, dass du das für mich tun würdest, und auch Boyle, ja, den würde ich sehr gerne einmal kennenlernen, aber es geht mir um jemand anderes, nicht um mich selbst“, erwidert Xavier.
„Ja? Um wen denn?“, fragt Yoav verdutzt nach. Sein Elan ist