Frikadellen für Marrakesch. Hanna Jakobi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanna Jakobi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752941326
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öffnete die Türe, als sie Susan die Treppe herauf stapfen hörte. Ihr vorheriger Patient war bereits gegangen. Sie waren alleine in der Wohnung. Evas Professionalität sah es Susan im ersten Moment an, dass etwas geschehen war.

      »Hallo meine Liebe. Bitte komm rein. Du siehst ja richtig frisch aus heute!«

      Eva trat einen Schritt zurück, um sie durchzulassen. Susan zog ihre Sandalen aus und stellte sie in die Ecke neben die Türe. Während sie Eva in das hintere Zimmer folgte, in dem ihre Sitzungen stattfanden, sah sie in den großen Spiegel. Ihre Haut war rosig, die Augen klar. Diese Nacht hatte sie erstaunlich gut geschlafen.

      Wie jede Stunde bot Eva Susan an, auf dem ausladenden Ledersessel Platz zu nehmen. Sie holte in der Zwischenzeit Block und Kugelschreiber aus ihrem Schreibtisch.

      »Dir scheint es gut zu gehen. Das freut mich wirklich sehr Susan. Magst du mir von deinen letzten Wochen erzählen? Was ist denn alles passiert?«

      Susan schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. Mit den ganzen Kissen, die auf und um die Sessel lagen, baute sie sich ein Mäuerchen um ihren Bauch. Eva beobachtete es, ging aber nicht weiter darauf ein.

      »Irgendetwas Besonderes vorgefallen, die letzten beiden Wochen? Du wirkst heute sehr gelöst auf mich.«

      Susan runzelte die Stirn, während sie die letzten Tage in ihrem Gedächtnis durchblätterte: Der Termin in der Redaktion, ein paar Freunde kürzlich am Abend bei ihr. Sie hatten Wein und deutsche Brezeln mitgebracht. Vorgestern der Besuch im Fishavi. Ansonsten war es ruhig gewesen. Am Liebsten verbrachte sie ihre Zeit zu Hause.

      Sie schüttelte nochmal den Kopf, zählte die Punkte für Eva auf.

      »Und wie war es für dich, in dem Club zu sein? Hast du getanzt? Oder jemanden kennen gelernt?« Eva zog ihre Brauen ein wenig nach oben und lächelte ihr aufmunternd zu, als sie eine winzige Regung in Susans Augen wahrnahm. Susans Mundwinkel verzogen sich flüchtig.

      »Jetzt machst du mich aber neugierig!« Sie lachte ihre Patientin offen an. Susan war einer der schwierigsten Fälle ihrer Laufbahn. Sie wünschte ihr von Herzen, dass sie nach ihrem schweren Trauma wieder in ein normales Sozialleben zurückkehren könnte. Es war allerdings fraglich, ob sie dafür schon bereit war. Eine Enttäuschung zu diesem Zeitpunkt würde sie meilenweit zurückwerfen. Ob sie ihr dann noch helfen konnte, wusste Eva nicht. Sie kannte Fälle, in denen die Zurückweisung eines Traumatisierten alles andere als zufriedenstellend geendet hatte.

      »Ach so, ja ja, ich habe tatsächlich jemanden kennen gelernt, aber das ist jetzt nicht so wie du dir das vielleicht vorstellst. Also einfach – kennen gelernt eben.«

      Sie hatte keine Lust, über Steve zu sprechen.

      »Willst du mir davon erzählen?«

      Nö, wollte Susan nicht. Trotzig schüttelte sie den Kopf. Wegen ihm war sie nicht hier.

      »Er ist ok. Aber im Grunde nicht mein Typ. Irgendwie nicht so – männlich. Nett. Normalo halt. Ok, wir gehen am Donnerstag Quad fahren. Brigid und Holger kommen mit. Also einfach ein Ausflug eben.«

      Sie hatte die Fäuste in die Taschen ihrer weiten Bluse gedrückt. Romantiklook. Die Rüschen und Knitterfalten betonten und versteckten ihre Weiblichkeit gleichzeitig. Hinter so viel Stoff fühlte sie sich momentan einigermaßen wohl in ihrem Körper.

      »Vielleicht erzählst du mir ja das nächste Mal, wie es war. Ich wünsch’ dir jedenfalls einen tollen Tag und einen schönen Ausflug.«

      Sie legte den Block und den Stift auf ihre Oberschenkel und sah Susan ernster an. Sie wollte nicht darüber reden? Auch gut. Dass es ›einfach ein Ausflug‹ wäre, glaubte sie ihr allerdings nicht. Dass ihre Freundin und ein Mann, den sie gut kannte, mitkamen, fand sie eine hilfreiche Konstellation. Ansonsten hätte sie Susan abgeraten.

      »Und was machen wir heute? Über was möchtest du in dieser Stunde sprechen?«

      Susan begann ihre Fäuste zu kneten, obwohl die in den Seitentaschen ihrer Bluse steckten. Sie hasste diese Frage, die Eva in jeder Stunde an den Anfang stellte. Jeder verdammten, verschissenen Therapiestunde.

      Das Oberteil verzog sich, bis die Schulternähte unter allerhöchster Spannung standen.

      Sie wusste nicht, über was sie sprechen wollte. In Wahrheit wollte sie gar nicht sprechen, sich nicht erinnern, nichts analysieren. Ruhe wollte sie. Stille in ihrem Kopf. Nicht immer wieder die Schreie hören müssen, von denen sie inzwischen wusste, dass es ihre Eigenen waren.

      »Ich hatte dich in Hypnose bis zu den Männern geführt und du hast sie dir angesehen.«

      Eva erinnerte sich gut an diesen Durchbruch. Susan hatte das erste mal eigene Ideen entwickelt, ihren Angreifern die Macht über sich zu entreißen.

      Susan saß, äußerlich unbeteiligt, in dem breiten Sessel. Mit den ganzen Kissen um sie herum kam sie Eva wie ein Vogel in seinem Nest vor. Ein eben geschlüpftes winziges Vögelchen. Extrem zerbrechlich.

      »Wenn du willst, können wir dort weiter machen.«

      Da ihr nichts Besseres einfiel, nickte Susan ihrer Therapeutin, wenn auch zwiegespalten, zu. What else?

      »Ok, du kennst das ja. Willst du in dem Sessel bleiben? Gut, dann streck’ doch wenigstens die Füße ein bisschen aus. Mach es dir so bequem wie möglich. Wir können aber auch auf das Sofa gehen.«

      Susan schüttelte den Kopf. Nein, sie wollte in ihrem Kissenberg stecken bleiben. Das Sofa mochte sie nicht. Das war kalt und leer und stand irgendwie blöd im Raum herum. Ihr war schon nicht recht, dass sie ihre Schneidersitz- Halbbuddha-Haltung für die Tiefenentspannung aufgeben sollte.

      »Wenn du bereit bist, können wir anfangen. Gut? Vertraue mir und deinem Unterbewusstsein. Ich führe dich hinein und führe dich auch wieder zurück. Dein Unterbewusstsein zeigt dir nur so viel, wie du bereit bist, zu ertragen. Vertraue darauf. Entspanne dich im ganzen Körper. Versuch so viel loszulassen wie dir möglich ist ... – ... Ok? Dann können wir loslegen, wenn du dich bereit fühlst.«

      Mit sanfter Stimme begann sie Susan an den Zeitpunkt in ihrem Leben vor etwa einem Jahr zu führen, an dem der Überfall passierte.

      Susan mochte den beruhigenden Klang und sie mochte Eva. Nie hatte sie etwas von ihr gefordert, das ihre angeschlagene Psyche nicht bewältigte. Eigentlich wollte sie ihre Ruhe, aber mit ihr ließ sie sich auf die Rückführung ein. Sie wusste, Eva war da.

      »Schau dich um, siehst du jemanden in dieser Nebenstraße?« Sie waren an dem Zeitpunkt angekommen, an dem es passiert war. Susan hämmerte das Herz, dass es in ihren Ohren rauschte.

      »Ja – da stehen sie.«

      »Dann gehe so weit auf sie zu, wie es für dich in Ordnung ist. Schau sie dir an. Sie können dich nicht sehen, du kannst alles in Ruhe betrachten.«

      Susan sah sich in ihrer imaginierten Szene lange um.

      Da standen sie, die drei Männer, die ihr das angetan hatten. Ihr Leben, ihren Frieden in wenigen Stunden zerstörten.

      Der Größte der drei war der Dickste. Seine Jeans hing abgetragen und ausgebeult unter seinem Bauch. Der Hosenbund verschwand nahezu. Einen Gürtel, sofern vorhanden, konnte sie nicht sehen. Das T-Shirt war genauso verwaschen und schlabberig wie die Hose, seine Frisur extrem ungepflegt. Er war unverkennbar ein Schlägertyp. Der stumpfe Handlanger der beiden anderen. Der, für die dreckigsten Aufträge. Was hatte er in der Hand? Einen Totschläger? Ein Messer? Schlagringe? Sie konnte es nur schemenhaft erkennen.

      Der Mittelgroße sah dagegen überhaupt nicht nach Dreckschwein aus. Eher wie ein sportlicher Sunnyboy. Der sympathische Typ von nebenan. Hätte sie ihn unter anderen Umständen kennen gelernt, wäre sie vielleicht einen Kaffee mit ihm trinken gegangen. Ordentliche Stoffhose, legeres Hemd, Frisur akkurat, den kurzen Vollbart modisch ausrasiert. Der Traum aller 13-jährigen. Wieso hatte so jemand es nötig, sie derartig zu behandeln?

      Der Kleinste, Drahtigste von ihnen war der klassische »Mitläufer«. Ein Judas. Direkt dabei, wenn der Chef es angab. Egal was. Katzbuckelig,