Klara studierte lange Salvinas Gesichtsausdruck, bevor sie sagte: »Ich sehe weder einen Zusammenhang mit dem Lager deines Vaters noch erkenne ich in der Geschichte mit der Frau etwas Besonderes. Du hast sie eben an dieses Mädchen erinnert. Na und?«
Zögernd sagte Salvina: »Es war ihre Enkeltochter.«
»Dann war es eben ihre Enkeltochter. Auch das hat nichts mit deinem Vater und dir zu tun.«
»Doch Klara, eben schon. Als mein Vater mitbekommen hatte, dass die Frau mit mir sprach, stürmte er sofort aus dem Laden und ging auf sie los. Dabei schrie er, sie solle mich in Ruhe lassen und nie wieder bei uns vorbeikommen. Ich habe meinen Vater niemals zuvor so aggressiv erlebt, wie in diesem Moment. Er war so wütend. Ich glaube, er wäre ihr am liebsten an die Gurgel gegangen. Und dann ...« Wieder stockte Salvina.
Klara nahm die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. Keine der beiden sprach jetzt ein Wort. Salvina hatte die alte Standuhr ihres Vaters als Erinnerung an ihn nach seinem Tod im Wohnzimmer stehen lassen. Im gleichmäßigen Rhythmus erfüllte das Klackern des mechanischen Werks das kleine Wohnzimmer. Nach einer Weile stand Salvina auf und ging in die Küche. Als sie zurückkam, brachte sie zwei Gläser und eine Flasche Orangensaft mit und stellte alles auf den Tisch.
»Vielleicht wollte dein Vater nicht, dass dich fremde Menschen berühren«, begann Klara mit gerunzelter Stirn. »Vielleicht war ihm die Frau auch nur unsympathisch.«
»Nein, das glaube ich nicht. Als mein Vater sie so angeschrien hatte, lächelte sie nur und sagte zu mir: Es sind deine Sachen. Dann griff sie in ihre Tasche, holte einen Schlüssel heraus und streckte ihn mir entgegen. Sofort riss ihn mein Vater ihr aus der Hand und schrie sie noch einmal an. Sie solle verschwinden, schrie er. Bevor sie ging, sagte sie noch: Vergessen Sie das ja nicht! Das sind ihre Sachen. Eines Tages müssen Sie ihr das alles geben! Mein Vater hat den Schlüssel gleich in seine Hosentasche gesteckt.«
»Na und?«
»Ich weiß nicht mehr, was mir mein Vater damals über diese Frau erzählte, und wie er seine Reaktion begründete. Er schaffte es jedenfalls, dass ich bis heute nicht mehr an sie gedacht habe. Auch als ich viele Jahre später mit Iris den Schlüssel in der Standuhr im Lager gefunden habe, erinnerte ich mich nicht mehr an diese Frau. Aber jetzt weiß ich, der Schlüssel aus der Standuhr, das war der Schlüssel, den sie mir geben wollte.«
»Salvina, ich bitte dich. Wie kannst du dir so sicher sein? Diese Schlüssel sehen doch alle gleich aus.«
»Es war derselbe Schlüssel, glaube mir. Das war so ein alter Schlüssel mit einem Ring als Griff und vorne einem Bart. Mein Vater hat mir damals den Schlüssel nicht mehr zurückgegeben. Und die Sachen, von der die Frau gesprochen hatte, habe ich nie gesehen. Er muss sie vor mir versteckt haben.«
»Wach auf aus deinen Phantasien, Salvina! Dein Vater war damals gereizt, weil er nicht wollte, dass du dich in seinem Lager aufhältst, das ist verständlich. Und heute hast du von ihm geträumt. Aber er hat nichts vor dir versteckt, nicht dein Vater.«
»Doch. Ich spüre es.«
Klara sagte nichts mehr. Sie zuckte nur kurz mit den Achseln, dann blickte sie zur klackernden Standuhr. Sie wollte es nicht glauben, wollte es nicht wahrhaben, trotzdem wusste sie, dass sie sich auf Salvinas Gespür verlassen konnte. Schon oft hatte Salvina sie mit ihren Eingebungen und Vorahnungen überrascht.
Am Todestag ihres Vaters litt Salvina unter starken depressiven Stimmungen. Damals kannten sich Klara und Salvina noch nicht. Salvina wohnte zu der Zeit in der kleinen Dachgeschosswohnung über Klaras jetziger Wohnung. Als Salvina an diesem Morgen aufstand und zur Arbeit ging, wollte sie vorher unbedingt noch ihren Vater sehen. Gegen fünf Uhr blieb sie vor seiner Wohnungstür stehen, klingelte aber nicht. Sie wusste, dass er noch mindestens zwei Stunden schlafen würde. Aber sie wollte unbedingt seine Stimme hören, ihn umarmen, denn sie spürte, dass etwas nicht stimmte, anders war als sonst. Trotzdem weckte sie ihn nicht auf. Sie wollte ihn nicht beunruhigen. Ohne ihn noch einmal lebend zu sehen, wandte sie sich damals ab und verließ das Haus.
Den ganzen Tag über quälte sie die Sorge um ihren Vater. Später rief sie bei ihm an, im Geschäft, in der Wohnung. Sie konnte nicht wissen, dass ihr Vater bereits tot in seiner Wohnung lag. Da er nicht mehr ans Telefon ging, machte sie sich noch mehr Sorgen. Als sie später Klara davon erzählte, konnte sie nicht mehr sagen, wann ihre Sorge in eine depressive Stimmung überschlug. Aber sie konnte sich an den Nebel erinnern, der sich in ihrem Bewusstsein ausbreitete und sie jeglicher Denk- und Entscheidungsfähigkeit beraubte. In diesem Zustand der geistigen Leere fuhr sie damals nach ihrer Arbeit nach Hause und fand ihren Vater. Weißt du Klara, sagte sie später, jedes Mal, wenn ein geliebter Mensch stirbt, raubt dir sein Tod ein Stück deines Lebens. Zurück bleibt ein mit Nebel gefüllter Raum. Diesen Nebel spürte ich schon, bevor ich es wissen konnte.
An diese Worte erinnerte sich Klara.
Ein andermal läutete Salvina gegen Mitternacht an ihrer Wohnungstür. Klara war schon im Bett und hatte fest geschlafen. Hektisch stammelte Salvina unverständliche Worte. Sie war völlig aufgelöst, so, als ginge es um Leben und Tod. Bitte Klara, du musst mir helfen. Das war der erste verständliche Satz, an den sich Klara erinnern konnte. Wobei helfen, und hat das nicht bis morgen Zeit? Sie kann nicht allein in den Laden gehen, um nachzusehen. Klara und ihr Mann müssten sie begleiten. Was sie nachsehen wolle? Im Laden sei jemand. Ob sie sich sicher sei? Ja, ganz sicher, sie spüre es. Ob sie es nur spüre, oder ob sie etwas gehört habe. Sie spüre es.
Klara wollte nicht die Heldin spielen, sie wollte auch nicht, dass ihr Mann für Salvina den Helden spielt, deshalb griff sie zum Telefon. Wenn du dir sicher bist, dann rufe ich jetzt die Polizei. In diesem Moment hatte Klara den Eindruck, Salvina erwache aus einem Traum. Sie wollte es nicht.
Klara sah die ganze Szene wieder deutlich vor sich. Sie sah ihren Mann schlaftrunken in der Schlafzimmertür stehen und nach Salvinas Problem fragen. Ja, so war es gewesen: Ihr Mann wurde um Mitternacht von Salvina wegen eines Traumes – oder was immer es war – aus dem Schlaf gerissen, trotzdem hatte er sofort Verständnis für sie und ihre Probleme. Er war es auch, der augenblicklich seinen Mantel anzog und ohne Licht zu machen lautlos die Treppe hinunterging. Klara folgte ihm. Salvina schlich zögerlich hinter ihnen her.
Vorsichtig versuchte ihr Mann, die hintere Ladentür vom Treppenhaus aus zu öffnen. Die Tür war verschlossen. Er beruhigte Salvina, sagte ihr, dass vom Innenhof aus niemand in den Laden gedrungen sein könne. Er bat sie um den Schlüssel. Dann schloss er wie ein Profi völlig geräuschlos die Tür auf. Vorsichtig betrat er den Laden, horchte und spähte. Im Laden war niemand. Sie machten kein Licht, ihre Augen hatten sich im finsteren Treppenhaus an die Dunkelheit gewöhnt. Der Verkaufsraum wurde von der Straßenlaterne etwas beleuchtet. Dieses fahle Licht reichte für alle drei aus, um sicher zu sein, dass alles in Ordnung war.
Damals hatte Klara schon im Voraus geahnt, dass niemand im Laden sein würde, und sie fühlte sich in ihrer nüchternen Lebenseinstellung bestätigt. Ihr Mann und Salvina hingegen waren beide erleichtert, keinen Einbrecher vorgefunden zu haben. Trotzdem verließen sie den Laden leise und umsichtig wieder durch den Hinterausgang.
Klaras Mann wollte gerade die Tür schließen, als er plötzlich innehielt. In Klaras Erinnerung spiegelte sich in Salvinas Gesicht Entsetzen, als auch sie selbst den Grund dafür wahrnahm, weshalb ihr Mann die Tür nicht schloss. Salvina und Klaras Mann hatten das metallene Geräusch schon Sekunden vor ihr gehört. Nun hörte auch sie, was die anderen bereits wussten. Das metallene Geräusch kam direkt von der Eingangstür. Es hörte sich so an, als machte sich jemand am Schloss zu schaffen.
Als Klaras Mann eine dunkle Gestalt den Laden betreten sah, schloss er leise die Tür. Sie ließen den Einbrecher gewähren und eilten so leise wie möglich nach oben. Als Salvina ihre Wohnung aufschließen wollte, warf Klara ein, dass der Einbrecher ihre Schritte in ihrer Wohnung hören könnte, da diese direkt über dem Laden