Salvinas Träume. Stefan von der Weide. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan von der Weide
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738033298
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ihrer Küche war es noch hell. Es regnete nicht mehr, und die Sonne schenkte ihr durch die Lücken der Restwolken hindurch ihre letzten Strahlen. Salvina blieb nur so lange am Fenster, bis die Sonne hinter den Dächern der Häuser gegenüber verschwunden war. Danach machte sie sich eine große Schüssel Salat, trottete damit ins Wohnzimmer und legte sich aufs Sofa.

      Auf dem Bauch liegend richtete sie ihren Oberkörper auf und stützte sich dabei mit den Ellbogen ab. In dieser Haltung nahm sie ihren Salat zu sich. Dazu aß sie noch die schon angetrocknete Semmel vom Vortag, die sie zum Frühstück beim Bäcker um die Ecke geholt und dann doch nicht gegessen hatte.

      Sie blieb zu Hause. Wie jeden Abend. Sie hatte keine Freunde außer Klara, und alleine ging sie nicht gerne weg. Nur ins Kino. Ein-, zweimal im Jahr. Nicht öfter. Im Kino wird man unterhalten, da kann man konsumieren, ohne selbst aktiv sein zu müssen. Und im Kino ist es dunkel, da starrt einen niemand an, da treffen einen keine fragenden Blicke, auch keine mitleidigen. Da klebt nicht sofort der Makel des Alleinseins auf dir.

      Salvina schaltete den Fernseher ein. Ihr war nach Konsum, nicht nach Aktivität. Aber sie wusste nicht, was lief. Sie wusste nie, was lief, denn sie kaufte sich nie eine Programmzeitschrift.

      Im Ersten sang ein blonder, sehr junger Mann von Liebe. Mit beiden Händen hielt er das Mikrofon fest umklammert und weinte fast vor Schmerz. Vor der Kulisse einer blühenden Almwiese, im Hintergrund das schneeweiße Matterhorn, sang er von der wichtigsten Frau in seinem Leben, im Leben eines jeden Mannes. Die Zuschauer im Saal weinten mit, sie bewunderten seine Walliser Tracht, sie bewunderten seine wehmütige Stimme, sie bewunderten sein ehrerbietiges Lied. Er sang von seiner Mutter.

      Im Zweiten lief eine Serie. Es konnte nur eine Serie sein, das sah Salvina auf den ersten Blick. Sie hätte nicht erklären können, woran sie es sah, aber bereits nach den ersten Sekunden wusste sie, es war eine Serie mit monatlicher Ausstrahlung, je Sendung eine Stunde Spielzeit mit drei bis vier in sich abgeschlossenen Episoden aus dem Alltag einer Frau von nebenan.

      In den Dritten kamen Dokumentationen, Berichte, Diskussionsrunden. Die Privaten zeigten Werbung, amerikanische Serien mit grundlos lachendem Publikum oder Quizsendungen. Salvina wechselte von einem Fernsehkanal zum nächsten. Als sie alle Programme kurz durchgesehen hatte, zappte sie wieder zurück. Auf einem der Privatsender kam jetzt statt der Werbung die Fortsetzung eines bereits begonnen Spielfilms. Salvina legte die Fernbedienung auf den Tisch, kaute weiter ihren Salat und schaute in die Glotze.

      Aber sie konnte der Handlung des Films nicht folgen. Zum einen fehlte ihr der Anfang, zum andern musste sie immer wieder an die Truhe und ihren Vater denken. Außerdem gefiel ihr nicht, was sie da sah. Die Hauptrolle gehörte offenbar einem kleinen, Baseball spielenden Jungen. Wenn er mal nicht auf dem Platz war, um einen seiner obligaten Home-Runs zu laufen, saß er zu Hause auf dem Sofa und spielte gelangweilt mit seinem übergroßen Baseballhandschuh. Nun kamen seine streitenden Eltern zu ihm ins Wohnzimmer, er sah sie wegen ihres Streits vorwurfsvoll an und sprach ein paar höchst pädagogische Sätze zu ihnen. Die Eltern schämten sich ihrer mangelnden Vernunft und Disziplin, setzten sich zu ihm und waren wieder glücklich. Von nun an saßen sie zu dritt auf dem Sofa; Vater und Sohn neckten einander und taten so, als würden sie sich um den Baseballhandschuh streiten.

      Salvina schaltete den Fernseher aus und beendete ihren Tag früher als gewohnt.

      Im Bad prüfte sie die wenigen feinen Unreinheiten ihrer Haut im Gesicht, die sie nur sehen konnte, wenn sie ganz nah an den hell beleuchteten Spiegel herantrat. Sie zupfte und drückte ein bisschen, bis sich die Haut rötete. Dann konzentrierte sie sich auf ihre Augen. An den Unterlidern bildeten sich die ersten kleinen Fältchen. Auf ihre glatte und reine Haut war sie immer sehr stolz gewesen.

      Salvina glättete ihre Unterlider zuerst mit den Daumen, dann begann sie, Grimassen zu schneiden. Sie formte dabei ihren Mund zu einem O und zog gleichzeitig ihr Gesicht in die Länge. Anschließend machte sie einen breiten Mund. Diese Übung fördert die Durchblutung der Gesichtshaut und macht sie gleichzeitig geschmeidig, hatte sie einmal gelesen. Anschließend streifte sie ihren Hals mit den Händen glatt.

      Dann zog sie sich aus. Sie drehte sich vorm Spiegel, legte die Hände unter die Brüste und hob sie etwas an. Um den Rest ihres Körpers besser sehen zu können, stieg sie auf den Deckel des Toilettensitzes hinter ihr. Nun strich sie sich mit den flachen Händen über die Schultern. Von dort aus glitten ihre Hände seitlich entlang ihrer Brüste, über die Taille, dann über ihre weiblichen Hüften bis hinab zu den Oberschenkeln, so, als wollte sie ein eng sitzendes Etuikleid glatt streifen. Abschätzig musterte sie sich vorm Spiegel, drehte sich nach links, dann nach rechts, und je länger sie sich im Spiegel betrachtete, desto unzufriedener wurde sie. Sie dachte an die vielen superschlanken Frauen, deren scheinbar perfekte Körper ihr von den Medien vorgeführt wurden. Bislang war sie stolz auf ihre schlanke Figur gewesen, doch genügte es, schlank zu sein? Perfekt wollte sie ihren Körper wissen, so perfekt, wie sie die Körper der Frauen glaubte, die sie noch nie in natura gesehen hatte.

      Von ihren leichten Wölbungen entmutigt, stellte sie sich unter die Dusche. Nach ihrer Abendtoilette ging sie zu Bett.

      Aber schlafen konnte sie nicht. Sie war noch nicht müde. Und sobald sie sich hinlegte und die Augen schloss, begannen ihre Gedanken zu kreisen. Sie wusste, Klara würde unter keinen Umständen mehr darauf verzichten, die Truhe zu öffnen. Notfalls würde sie die Truhe mit der Axt oder mit einem Hammer zertrümmern oder sie zersägen. Um dies zu verhindern, musste Salvina am nächsten Tag den Schlüssel finden.

      Sie wälzte sich Stunde um Stunde im Bett, schaltete das Licht an, ging ins Bad, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen, ging in die Küche, um ein Glas kalte Milch zu trinken. Es half alles nichts. Solange sie darüber grübelte, wo der Schlüssel sein könnte, konnte sie nicht schlafen. Erst sehr spät vergaß sie für einen längeren Moment den Schlüssel und schlief ein.

      Der ursprünglich weiße Lack der Bretter von der Tür zum Keller war matt und übersät mit dunklen Schlieren. Die Türklinke – nur eine einfache, glatte Eisenstange, die beim Hinunterdrücken einen starren Riegel hochhob – fühlte sich kalt an. Das wuchtige Kastenschloss war auf die Bretter der Tür aufgeschraubt. Der Schlüssel dazu bestand aus einem bleistiftdicken Rohr mit einem breiten Bart und am anderen Ende einem ovalen Ring, der so groß war, dass Salvina Zeige- und Mittelfinger hindurchstecken konnte. Sie öffnete die Tür und schaltete das Licht an. Im ersten Moment schreckte sie zurück, denn das Licht flackerte. Aber sie musste in den Keller gehen, sie suchte etwas. Kurz überlegte sie, was sie suchte, sie hatte es vergessen. Nein, sie durfte nicht umkehren, jetzt nicht mehr. Sie musste weitergehen, dann würde es ihr schon wieder einfallen.

      Vorsichtig ging sie die bekannten Stufen der Kellertreppe hinab. Am Ende der Treppe folgte sie dem kurzen Gang, vorbei an den Abteilen ihrer Mieter. Vor der Tür zum Lager ihres Geschäfts schaute sie sich noch einmal um. Sie war allein. Dann schloss sie die Tür auf, stemmte sich mit dem Gewicht ihres gesamten Körpers dagegen und trat ein. Auch hier flackerte das Licht. Wieder schreckte sie zurück, wieder befahl sie sich, weiterzugehen.

      Hier ist jemand, dachte sie plötzlich. Ein Anflug von Panik breitete sich in ihr aus und wühlte sie auf. Doch für einen kurzen Moment beruhigte sie sich wieder. Es konnte niemand hier sein, denn nur sie allein hatte einen Schlüssel für das Lager. Dann hallte ein lauter, dumpfer Knall durch den Raum und ließ sie hochfahren. Sofort schaute sie um sich. Erleichtert stellte sie fest, es war nur die Tür, die hinter ihr ins Schloss gefallen war. Salvina vermied jetzt jede Bewegung, und so fühlte sie die beruhigende Wirkung der Stille, die sich mit dem Abklingen des Knalls nach und nach im Raum ausbreitete. Schon bald hörte sie nur noch das sanfte Rauschen ihres eigenen Atems.

      In langsamen Schritten begann sie, das Lager zu durchqueren. Behutsam setzte sie ihre Schritte, sie wollte lautlos das andere Ende erreichen. Schon aus der Ferne sah sie die Truhe in der Ecke stehen, befreit von den Uhren und von dem alten Kleiderschrank. Alles war, wie sie und Klara es zurückgelassen hatten. Nur das Licht flackerte so stark, dass Salvina zeitweise stehen bleiben musste, um nicht in diesem Wechsel aus hell und dunkel gegen die Antiquitäten zu stoßen. Als sie die Truhe erreicht hatte, versuchte sie, den Deckel zu öffnen.

      »Ich brauche den Schlüssel«, sagte