Salvinas Träume. Stefan von der Weide. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan von der Weide
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738033298
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sodass sie ihn nicht greifen konnte. Und die Standuhren waren für sie allein zu schwer. Sie hatte keine Kraft mehr. Eine Weile stand sie noch unschlüssig und schaute sich um, ob irgendetwas herumlag, das sie als Hebel hätte benutzen können. Dann beschloss sie, am späten Nachmittag Klara – ihre Mieterin aus dem zweiten Stock – um Hilfe zu bitten.

      Es war schon Mittag geworden, als sie durch den Hintereingang wieder den Laden betrat. Etwas schien ihr verändert. Sie spürte eine Spannung, die sie zuvor nicht empfunden hatte. Dies beunruhigte sie. Obwohl sie wusste, dass es nicht sein konnte, glaubte sie, die Anwesenheit eines Menschen zu spüren. Hätte in ihrer Abwesenheit ein Kunde den Laden betreten, so wäre im Lager eine laute Klingel ertönt; es konnte also niemand hier sein. Trotzdem fühlte sie sich beobachtet. Vorsichtig und leise setzte sie ihre Schritte und ging in die Mitte des Verkaufsraumes. Dort drehte sie sich einmal um sich selbst. Aufmerksam blickte sie in jeden Winkel, auf jeden Gegenstand. Sie achtete auf das leiseste Geräusch, auf ungewohnte Gerüche. Aber außer der Spannung nahm sie nichts Fremdes wahr. Alles war wie immer. Alles stand an seinem Platz und wartete darauf, endlich das dunkle Loch verlassen zu dürfen. Auch Salvina stand wieder an ihrem Platz und wartete.

      Ihr wurde kalt. Zuerst spürte sie die Kälte an den Füßen. Ihre Fußsohlen fühlten sich an, als würde sie an einem nebligen Novembertag barfuß über glitschige Flusskiesel wandern. Die Kälte der Kiesel stieg langsam über ihre Beine in den Unterleib. Bald hatte sie ihren ganzen Körper ergriffen. Salvinas Haut zog sich zusammen und stellte ihr die feinsten Härchen auf. Schließlich ging sie zurück. Jeden Schritt setzte sie behutsam auf das Parkett und mied die knarrenden Stellen. Sie ging vorbei am Schreibtisch ihres Vaters. Dort spähte sie in die kleine Küche. Als sie sich absolut sicher war, dass sich dort niemand versteckt hielt, eilte sie zum Küchenschrank und holte das längste Messer aus der obersten Schublade. Sie wusste, dass sie niemals zustechen könnte. Sie wusste, dass der Anblick des Messers die Aggression eines Angreifers verstärken würde. Dennoch stand sie am Herd, das Messer fest im Griff und sah zur Tür.

      Salvina wartete und horchte, doch nichts geschah. Erinnerungen wurden in ihr wach. Erinnerungen an einen Vorfall, an den sie jetzt nicht denken wollte, denn er machte ihr nur noch mehr Angst. Aber die Bilder stiegen unweigerlich wieder in ihr hoch. Sie durchlebte diese endlos langen Minuten jener Nacht, in der sie Klara und deren Mann aus dem Schlaf gerissen hatte. Das Frösteln, als sie zu dritt am offenen Küchenfenster in Klaras Wohnung standen und auf das Eintreffen der Polizei warteten. Nein, so etwas passiert nur einmal, es musste sich mittlerweile herumgesprochen haben, dass bei ihr nichts zu holen war. Salvina verdrängte die Bilder, verdrängte die Erinnerung. Sie begann zu pfeifen. Wie ein Kind, das sich in der Dunkelheit fürchtet, verscheuchte sie die Stille und mit ihr die Einsamkeit, um die Angst nicht mehr zu spüren.

      Aber die Angst und die Einsamkeit blieben. Salvinas Gedanken kreisten um die letzten Tage. Sie hoffte, sich an etwas erinnern zu können, das sie ablenkte. Doch sie fand weiter nichts als pure Ereignislosigkeit und Ödnis. Noch vor wenigen Jahren hatte sie sich danach gesehnt, endlich wieder einen eigenen Gedanken fassen zu können. Sie hatte sich danach gesehnt, wieder am Fenster zu stehen und nichts tun zu müssen. Nur den Regen beobachten, schauen, wie seine schweren Tropfen auf dem Asphalt zerplatzen.

      Als ihr Vater noch gelebt hatte und den Antiquitätenladen führte, ließ ihr der Alltag in der Klinik keine Zeit zum Nachdenken; er ließ ihr keine Zeit, der Welt bei ihrem Treiben zuzuschauen, sie mit ihren Augen zu sehen. Nun hatte sie diese Zeit wieder im Überfluss, wie früher, als sie noch ein Kind war. Aber sie hatte sich in den Jahren, in denen sie als Krankenschwester gearbeitet hatte, verändert. Sie hatte verlernt, die Welt mit kindlichen Augen zu sehen, und sie hatte verlernt, die Einsamkeit zu ertragen. Sie ist erwachsen geworden und hatte doch nie so werden wollen, wie die meisten Erwachsenen auf sie wirkten, die ihr während ihrer Kindheit begegnet waren.

      Salvina legte das Messer zurück in die Schublade und trat ans Fenster. Durch das feine Netz der vergilbten Gardine schaute sie auf die Fahrbahn der Straße, obgleich ihr Blick in die Ferne gerichtet war, so, als könnte sie durch den Asphalt hindurchblicken und sehen, was sich jenseits des Straßenbelags im Innern der Erde verbarg. Für sie selbst war es, als öffnete sich ein Schleier, wenn sie durch die Dinge hindurchsah. Ein Schleier, der ihr im Alltagsleben den Blick in ihr Inneres versperrte. So blickte sie scheinbar durch die Straße, doch in Wirklichkeit schaute sie dabei tief in sich selbst hinein.

      Dort sah sie den Trauerzug, den Paule angedeutet hatte, und sie selbst führte ihn an. Sie versuchte, die Gefolgschaft zu sehen, aber ihr fehlte der Mut, sich umzudrehen. Sie hatte Angst davor, das bestätigt zu sehen, was sie zu wissen glaubte. Mit gesenktem Haupt schritt sie als Erste hinter dem schlichten Sarg und wusste, dass die Gefolgschaft aus unendlich vielen kleinen und großen, kindlichen und erwachsenen Salvinas bestand. Und sie wusste, dass sie sich selbst zu Grabe trug. Unentwegt, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Mit jedem Augenblick, der verrann, trug sie ein Stück ihrer selbst zu Grabe. Mit jedem Augenblick, den sie nicht für sich nutzte, verschwendete sie ein wertvolles Stück ihres Lebens.

      Sie wusste nicht weiter. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Bevor sie einen Schritt setzte, wollte sie immer wissen, was sie nach diesem Schritt erwartete. Deshalb hätte sie gerne einen Plan für ihr Leben gehabt, einen Plan, an dessen Anfang sie schon erkennen konnte, was am Ende herauskommen würde. Alle Lebewesen folgen dem Plan der Natur. Sie folgen dem Plan des Wechsels zwischen den Jahreszeiten, zwischen Tag und Nacht, zwischen tätig sein und ruhen, zwischen Nahrung aufnehmen und fasten. Sie folgen den in ihm enthaltenen Vorgaben, den Regeln, den Hilfestellungen, und wissen dabei wahrscheinlich nicht, dass ihr Handeln einem Plan folgt. Nur der Mensch weiß von diesem Plan und verwirft ihn, um nicht weiter von den Vorgaben der Natur abhängig zu sein. Der Mensch möchte frei und unabhängig sein, möchte selbst entscheiden, selbst gestalten. Auch Salvina hätte gern selbst gestaltet, aber sie konnte es nicht. Sie wusste nicht, wie sie es schaffen sollte, wusste nicht, was sie machen, was sie tun musste, um mit ihrem Alltag, ihrem Leben zufrieden zu sein. Sie wusste nicht, wie sie glücklich werden könnte.

      Über ihren Gedanken verblasste das Bild des Trauerzugs mehr und mehr. Dann löste es sich auf. Salvina schloss die Augen und wünschte sich an einen warmen, sonnigen Ort, an dem sie frei von Verpflichtungen wäre. An einen Ort, an dem sich ihr Wert nicht am Maß ihrer Leistung orientierte. An einen Ort, an dem sie nicht warten müsste, bis Menschen zu ihr kämen, die ihr alte Gegenstände abkaufen wollten. Doch was sollte sie an einem solchen Ort? Wäre sie dort glücklicher gewesen? Salvina wusste, dass ihr Glück nicht ausschließlich von äußeren Umständen abhing. Vor allem wusste sie von ihrer Fähigkeit, auch an einem paradiesischen Ort und unter besten Bedingungen unglücklich sein zu können.

      Sie kannte diese Art Gedanken. Zuerst glaubte sie immer, an einen neuen Punkt gestoßen zu sein, der sie weiterbringen, ihr neue Sichtweisen eröffnen könnte. Doch dann gelangte sie jedes Mal an ihre Unzufriedenheit, an ihr Unglücklichsein, womit sich der Kreis ihrer Gedankenkette schloss. Wenn sie noch weiter ihren Gedanken nachhing, dann drehte sie sich erneut in diesem Kreis, würde vielleicht von dem einen oder anderen Gedanken überrascht, doch am Ende lief sie immer wieder in die Falle ihres Unglücklichseins. Je öfter sie in diese Falle trat, desto mehr Zeit brauchte sie, um sich aus ihr befreien zu können. Deshalb wollte sie den Kreislauf ihrer Gedanken durchbrechen. Sie öffnete ihre Augen und blickte wieder durch den Asphalt der Straße hindurch in die Ferne.

      Plötzlich schreckte sie auf. Sie fühlte sich wieder beobachtet. Aus dem Augenwinkel glaubte sie, kurz eine Gestalt auf dem Gehsteig gesehen zu haben. Sie schob die Gardine zur Seite, stützte sich mit durchgestreckten Armen auf dem Fensterbrett ab, beugte sich vor und drückte ihre Nase gegen die kalte Scheibe dicht neben dem Fensterrahmen. Da sie niemanden sah, beugte sie sich noch weiter vor, bis ihre breite, dunkle Augenbraue den Fensterrahmen berührte und ihre Nase auf der Scheibe platt gedrückt wurde. Sie konnte nun mit dem freien Auge den Gehweg bis fast zur Einmündung in die nächste Querstraße überblicken. Aber sie sah niemanden. Straße und Gehsteig waren leer. Trotzdem gab es für sie keinen Zweifel, dass jemand unweit ihres Fensters gestanden und sie beobachtet hatte.

      Sie hatte eine Frau gesehen, eine ältere, untersetzte Frau. Auf dem Gehweg, nur wenige Meter von ihr entfernt und nur durch das Glas des Fensters getrennt, dessen war sich Salvina sicher. Sie konnte sogar ihren kräftigen Hals