Salvinas Träume. Stefan von der Weide. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan von der Weide
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738033298
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deren Wände ab. Anschließend suchte sie mit ihrem Blick das Lager ab und senkte resigniert die Augen. Sie würde Wochen brauchen, wenn sie an allen möglichen Stellen nach dem Schlüssel suchen wollte. Wenigstens bei den Standuhren schaute sie noch einmal nach. Aber den Schlüssel mit dem ringförmigen Griff konnte sie nicht finden.

      Sie setzte sich auf die Truhe und dachte darüber nach, wo sie den Schlüssel an ihres Vaters Stelle aufbewahrt hätte. Sie hätte ihn versteckt. An einem Ort, den niemand außer ihr kannte oder an dem sie sicher sein konnte, dass niemand außer ihr dort etwas suchte. Wieder erinnerte sie sich des Augenblicks, als ihr Vater ihr den Schlüssel aus der Hand gerissen hatte, nachdem sie mit Iris den Stundenschlägen der Uhren gelauscht hatte. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er sie anschrie, mit einer schnellen Bewegung den Schlüssel ergriff und sofort in seine Hosentasche steckte. Von da an hatte sie den Schlüssel nicht mehr gesehen.

      In dem flackernden Licht hatte sie den Eindruck, der Boden unter ihren Füßen würde sich bewegen. Sie schaute genauer hin und weitete ihre Augen. Dabei glitt ihr Blick über ihre Hose und sie bemerkte, dass es nicht ihre Hose war, die sie trug. Sofort sprang sie von der Truhe und betrachtete die Hose von oben bis unten. Es war die Hose ihres Vaters. Nur ihr Vater hatte diese altmodischen Hosen getragen, er war in der Zeit von Salvinas Geburt stehen geblieben. Sofort griff sie in beide Taschen. Zuerst glaubte sie die Taschen leer, doch die Taschen waren tief, viel tiefer, als Salvinas Hände lang waren. Sie führte ihre Hände noch weiter hinein, spürte mit den Fingerspitzen schon ihre Oberschenkel, als sie an ihrem rechten Mittelfinger eine metallene Kälte empfand. Sie griff nach diesem Metall und nahm es heraus. Es war der Schlüssel. Hastig steckte sie ihn in das Schloss und drehte ihn um. Dann hörte sie das Schloss aufschnappen.

      Zuerst fasste sie ungeduldig den Deckel und hob ihn etwas an. Als sie merkte, dass sie ihn öffnen konnte, hielt sie inne. Dann spürte sie plötzlich eine schwere Hand auf ihrer Schulter. Erschrocken ließ sie den Deckel wieder fallen und drehte sich um. Ihr Vater stand hinter ihr und sah sie flehend an. Er sagte:

      »Tu es nicht, Salvina! Bitte, tu es nicht!«

      Noch im Aufwachen spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter.

      Später stand sie wie jeden Morgen mit weißen Socken in weißen Sandalen am offenen Fenster ihrer Küche. Sie beugte sich vor, stützte sich dabei auf ihre Ellbogen und sah an der Außenmauer des Hauses hinab auf das triste Grau des Straßenbelags. Dabei sah sie auf die Uhr und wusste, in genau fünf Minuten würde sie Paule die Tür öffnen. Diese exakte Uhrzeit hatte sich in den vergangenen zwei Jahren in Salvinas Tagesablauf fest eingespielt.

      Schon sah sie Paule am Ende der schmalen Straße um die Ecke kommen und in kleinen, langsamen Schritten seinen mühevollen Weg humpeln. Sie beobachtete ihn, bis er vor ihrem Laden stehen blieb. Dann stellte sie sich vor, dass er auf sie wartete. Seit zwei Jahren hatte sie jeden Tag auf diese Weise begonnen, nie hatte sie den Ablauf verändert, seitdem Pater Franziskus sie besucht hatte.

      Sie nahm den Schlüsselbund vom Tisch und ging in den Laden. Paule sollte sich freuen, wenn er sie sah, deshalb stellte sie sich vor, dass er sich bei ihrem Anblick aufrichtete und große, klare Augen bekam. Salvina selbst lächelte diesmal nicht. Ohne Regung öffnete sie die Tür, begrüßte ihn einsilbig und ging voran in die Küche. Dort rückte sie für ihn den Stuhl zurecht und machte ihm seine tägliche Tasse Kaffee.

      »Was ist los mit dir? Dein Laden war gestern verschlossen«, hätte Paule an diesem Tag zögerlich fragen sollen.

      Daraufhin schilderte Salvina ihre seltsamen Erlebnisse. Am Ende fügte sie ihren Worten noch hinzu: »Ich habe ein mulmiges Gefühl. Sogar Klara glaubt mittlerweile, dass mein Vater die Truhe vor mir versteckt hat.«

      »Du machst dir zu viele Sorgen über das, was sein könnte. Du musst die Truhe öffnen, nur dann weißt du, ob deine Sorgen und Ängste begründet sind. Wahrscheinlich sind auch in dieser Truhe nur alte Teller und Vasen.«

      »Ich kann sie nicht öffnen.«

      »Du musst sie öffnen.«

      »Du verstehst mich nicht, ich habe keinen Schlüssel.«

      Paule suchte sich durch seinen klebrigen Bart einen Weg zum Kinn. Dann kratzte er sich mit seinen langen, schwarzen Fingernägeln und sagte: »Such im Schreibtisch deines Vaters.«

      Salvina ekelte sich. Zum ersten Mal in den vergangenen zwei Jahren empfand sie vor dem Bild, das sie von Paules Erscheinung hatte, massive Abscheu. Sie schreckte vor seinen Fingernägeln im Bart zurück, und es graute ihr davor, dass es ihr Stuhl war, auf dem sie ihn sitzen sah, und auf den seine unsichtbar kleinen Hautschuppen fielen. Sie wollte ihr Bild von ihm nicht mehr sehen und schaute weg. Sie wandte sich ab, drehte sich zur Seite.

      »Such im Schreibtisch deines Vaters«, hörte sie Paule wiederholt sagen.

      »Den Schreibtisch benutze ich schon seit drei Jahren. Wenn der Schlüssel in einer der Schubladen wäre, hätte ich ihn schon längst finden müssen«, antwortete sie und schluckte.

      »Vielleicht findest du irgendwo eine kleine Dose, die du bisher übersehen hast.«

      Salvina gab ihm keine Antwort. Den Kopf weiterhin zur Seite gedreht, schloss sie die Augen. Nach einer Weile hörte sie die Glocke der Ladentür. Zuerst dachte sie, ein Kunde wäre gekommen, doch als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Paule verschwunden war. Als sie die Tür wieder ins Schloss fallen hörte, eilte sie in die Abstelle und holte einen Eimer, einen Putzlappen und Gummihandschuhe. Zuerst zog sie sich die Handschuhe über, dann nahm sie Paules Tasse und schüttete den Kaffee in das Spülbecken. Erst jetzt goss sie Wasser in den Eimer und spritzte kurz bevor sie das Wasser wieder abdrehte noch einen Strahl Reinigungsmittel hinein. Dann begann sie, fein säuberlich den Stuhl zu putzen. Anschließend wischte sie den gesamten Weg, den Paule in ihrer Vorstellung gegangen war.

      Als sie fertig war, ging sie zum Schreibtisch ihres Vaters, an dem er all seine Schreibarbeiten erledigt hatte. Der stand in der von der Eingangstür entferntesten Ecke hinter einem mit Ornamenten verzierten dreiteiligen Paravent aus Holz. Den Wandschirm hatte noch ihr Vater aufgestellt, damit Kunden den Schreibtisch nicht sehen und ihn versehentlich als Kaufobjekt betrachten konnten.

      Salvina öffnete zunächst die Schublade des linken Schreibtischunterschranks, dann die mittlere und schließlich die des rechten Unterschranks. Ein Anschlag verhinderte jeweils ein völliges Herausziehen der Schubladen. Sie durchwühlte alle drei nacheinander, doch den Schlüssel konnte sie nicht finden.

      Im Aufsatz des Schreibtisches befanden sich links und rechts je vier weitere kleine Schubladen, die Salvina alle gründlich durchsuchte. Danach stöberte sie in den vielen Schreibutensilien auf dem Regalbrett des Aufsatzes. Die beiden Unterschränke räumte sie leer, und zuletzt tastete sie den gesamten Schreibtisch von allen Seiten her ab, in der Hoffnung, der Schlüssel hinge an irgendeinem versteckten Haken. Aber sie konnte ihn nicht finden.

      Die Vorstellung, den Schreibtisch komplett leer räumen zu müssen, davor graute ihr. Deshalb ging sie in Gedanken noch einmal all ihre Schritte durch und überlegte, ob es vielleicht doch noch eine Stelle gab, an der sie nicht gesucht hatte. Da fiel ihr in ihrer Erinnerung etwas auf. Sofort öffnete sie alle Schubladen des Aufsatzes bis zum Anschlag und verglich die rechte mit der linken Seite. Auf der rechten Seite war die oberste Schublade die kürzeste, die unterste die längste. Die Vorderkanten aller vier Schubladen lagen ausgezogen und von der Seite betrachtet auf einer geraden Linie. Auf der linken Seite dagegen konnte sie die zweite Schublade von oben nur so weit herausziehen, dass deren Vorderkante genauso weit hervorstand wie die der obersten.

      Salvina räumte den Inhalt der zweiten Schublade auf die Schreibunterlage. Dann tastete sie die Schublade innen ab. An der Rückwand fühlte sie einen kleinen Knopf, etwas größer als der Kopf eines Spielkegels. Sie fasste ihn und zog daran. Zuerst zog sie ganz sanft, dann etwas fester, und plötzlich löste sich der kugelförmige Messingknopf. Er war an einer Sperrholzplatte angeschraubt, die genau die Größe der Innenfläche der Rückwand hatte. An der Rückseite der Sperrholzplatte war an allen vier Ecken je eine Unterlegscheibe aus Stahl festgeklebt. In gleicher Position befanden sich an der Innenseite der Rückwand der Schublade vier Magneten. Salvina zog die Sperrholzplatte