Auch an diese Eingebung musste Klara denken. Deshalb widersprach sie Salvina nicht weiter. Trotzdem glaubte sie nicht, dass Salvinas Vater etwas vor ihr versteckt hatte. Sie wollte es nicht glauben. Als Salvina sie ansah, wiegte sie leicht den Kopf hin und her. Daraufhin sagte Salvina:
»Komm bitte mit mir ins Lager und hilf mir, die Ecke frei zu räumen. Ich habe keine Ruhe, solange ich nicht weiß, was hinter dem Kleiderschrank ist. Und alleine schaffe ich es nicht.«
Gemeinsam verließen sie Salvinas Wohnung. Klara folgte ihr durch das düstere Treppenhaus in den dunklen Kellergang, von dessen Wänden ihr Kühle und Feuchtigkeit entgegenstrahlten. Im Lager eilte Salvina sofort zu den beiden Truhen, die sie am Vormittag leer geräumt hatte, und blieb davor stehen.
»Die Truhen müssen weg«, ergriff Klara gleich das Wort, rieb sich die Hände und krempelte die Ärmel ihrer Jacke hoch. »Hinter der Tür ist noch Platz, da tragen wir sie hin.«
»So weit weg willst du die Truhen bringen? Das schaffen wir nie! Weißt du, wie schwer die sind?«
»Wir werden beide Truhen dort hinter der Tür verstauen, oder wir lassen es. Auf keinen Fall will ich später über sie stolpern. Und einen anderen Platz sehe ich nicht.«
»Komm mit«, sagte Salvina und zeigte Klara die beiden Stellen, die sie für die Truhen ausgesucht hatte.
»Du und dein Augenmaß«, erwiderte Klara kopfschüttelnd, als sie vor den Päckchen aus Zeitungspapier standen. »Der Platz reicht gerade mal für einen Klappstuhl, aber nicht für diese mächtigen Truhen. Wir tragen sie hinter die Tür, und damit basta. Die Päckchen kannst du später allein einräumen.«
Somit schleppten sie die Truhen quer durch das Lager. Klara immer voran. Danach eilte Klara als Erste zurück zu den Standuhren, kippte und drehte die vorderste Uhr, um sie stückchenweise von der Seitenwand des Kleiderschranks wegrücken zu können. Als Salvina endlich mit anpackte, versuchten sie gemeinsam, die Uhr hochzuheben und zu tragen, aber sie war zu schwer.
»Das schaffen wir nie!«, klagte Salvina.
»Jetzt hör bloß auf zu jammern, das hier war deine Idee«, maulte Klara und rückte die Uhr unbeirrt Zentimeter um Zentimeter aus der Ecke heraus in den Raum hinein.
Als sie die erste Uhr so weit fortgeschafft hatten, dass sie ihnen nicht mehr im Weg stand, hatten sie dadurch lediglich einen Teil der Seitenwand des Kleiderschranks freibekommen. So konnten sie noch immer nicht den Raum hinter dem Schrank einsehen.
»Interessant ist es schon«, begann Klara.
»Was meinst du?«
»Ja das«, antwortete sie und deutete auf die Seitenwand des Kleiderschranks. »Zwischen dem Schrank und der Mauer ist anscheinend wirklich noch genügend Platz für ein Versteck.«
Daraufhin kippten und drehten sie auch die zweite Standuhr. Wieder mussten sie ihre Finger zwischen die Seitenwände der Uhren quetschen, um sie kippen zu können. Da die Uhren so dicht aneinander standen, hätte Salvina es alleine nie geschafft. Sogar mit Klaras Hilfe stieß sie an die Grenzen ihrer Kraft, und sie brauchten lange, bis sie auch die zweite Uhr in ausreichendem Abstand verstaut hatten.
Zwischen dem Schrank und der dritten Standuhr war nun ein etwa handbreiter Spalt entstanden. Prüfend sah Salvina durch den Spalt hindurch, konnte jedoch noch nichts erkennen. Ohne auf Klara zu warten, griff sie in den Spalt und zog die dritte Standuhr etwas hervor. Klara kam ihr zu Hilfe und fasste an die andere Seite der Uhr, doch Salvina spähte gleich wieder durch den vergrößerten Spalt und rief augenblicklich:
»Ich habe es doch gesagt!«
Klara stellte sich hinter sie auf Zehenspitzen und lugte ebenfalls durch den Spalt. Auch sie erkannte nun, dass zwischen dem Kleiderschrank und der Mauer eine weitere Truhe stand.
Schließlich packten sie die dritte Uhr und schoben sie ruckweise zu den beiden anderen. Auch den Kleiderschrank rückten sie von der Stelle. Nun konnten sie die Truhe aus nächster Nähe betrachten. In diesem Moment atmete Klara erleichtert auf, Salvina jedoch bekam weiche Knie.
»Seltsam ist das ja schon«, sagte Klara. »Es sieht wirklich so aus, als hätte dein Vater die Truhe versteckt.«
»Klara, ich habe Angst, die Truhe zu öffnen. Vielleicht wäre es besser für mich, ich bewahre meinen Vater so im Gedächtnis, wie ich ihn gekannt habe. Stell dir vor, in dieser Truhe wären schreckliche Dinge versteckt, die ich ihm nie verzeihen könnte. Wie sollte ich damit umgehen? – Warum bin ich nur immer so neugierig? – Manchmal ist es vielleicht doch besser, wenn Geheimnisse geheim bleiben. Mein Vater wird schon seine Gründe gehabt haben.«
»Salvina, du bist verrückt. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich all das schwere Zeug hier mit dir von einem Ort zum anderen schleppe, damit wir am Ende die Truhe so stehen lassen, wie sie ist! Freu dich, wir sind am Ziel!«
Ohne Salvina weiter zu beachten, versuchte sie den flachen Deckel zu öffnen. Die Truhe war aus einfachen und unverzierten, jedoch massiven Brettern genagelt. Ursprünglich musste sie von schlichter Schönheit gewesen sein, doch über die vielen Jahre hinweg war das Fichtenholz dunkel und rau geworden. Klara rüttelte am Deckel, aber er ließ sich nicht öffnen. Dann sah sie an der Frontseite der Truhe ein im Holz versenktes Schloss.
»Wir brauchen den Schlüssel«, sagte Salvina eintönig.
»Du bist ein kluges Mädchen. Stell dir vor, das habe ich eben auch bemerkt.«
»Ich spreche nicht von irgendeinem Schlüssel. Ich meine den Schlüssel mit dem ringförmigen Griff. Den Schlüssel, den mir diese Frau vor zwanzig Jahren geben wollte, und den ich dann später mit Iris in einer der Uhren gefunden habe.«
»Vielleicht hast du ja recht«, erwiderte Klara. Dann ging sie zu den drei Standuhren und öffnete die Erste. Im Pendelkasten gab es nur wenige Möglichkeiten, einen Schlüssel zu verstecken. Da sie hier nichts fand, suchte sie die Uhr von oben bis unten nach weiteren Plätzen für ein geeignetes Versteck ab. Aber sie konnte ihn nicht finden. Auch in der zweiten Uhr fand sie ihn nicht. Und in der Dritten entdeckte sie statt des Schlüssels nur über die Jahre angesammelten Staub.
Mit gerunzelter Stirn stieß Klara einen tiefen Seufzer aus. Die beiden Frauen sahen einander entmutigt an, dann sagte Klara:
»Sei mir nicht böse, Salvina, aber ich gehe jetzt nach oben. Mein Mann wird sicherlich schon zu Hause sein und mich vermissen. Überlege dir, wo der Schlüssel sein könnte, und wenn du ihn nicht findest, dann öffnen wir die Truhe morgen mit Gewalt. Aber für heute habe ich genug.«
Als Salvina sich bei Klara für ihre Hilfe bedanken wollte, hatte diese das Lager schon verlassen. Klara lebt schnell, dachte Salvina. Sogar bei wichtigen und weitreichenden Entscheidungen verharrt sie nie in langen Überlegungen. Sie macht sich im Nachhinein auch keine Gedanken darüber, ob ihre Entscheidungen richtig oder falsch waren. Wer will das auch beurteilen können? Niemand weiß, wie sich sein Leben unter dem Einfluss einer anderen Entscheidung entwickelt hätte. Trotzdem zerbrach sich Salvina oft den Kopf darüber, ob ihre Entscheidungen die Richtigen waren.
Sie setzte sich auf die Truhe und dachte darüber nach, weshalb ihr Vater die Truhe vor ihr versteckt hatte, und das mit solch hohem Aufwand. Doch solange sie nicht wusste, was in der Truhe war, konnte sie sein Verhalten nicht verstehen. Auch, ob er richtig gehandelt hatte, könnte sie erst beurteilen, nachdem sie die Truhe öffnete. Am meisten bewegte sie aber die Frage, ob es von ihr richtig und ihrem Vater gegenüber korrekt wäre, die Truhe zu öffnen. Immer wieder kreisten ihre Gedanken dabei um den Inhalt der Truhe. Dass in der Truhe etwas war, das er all die Jahre vor ihr geheim gehalten hatte, davon war sie inzwischen überzeugt.
Da ihre Neugier ihr niemals Ruhe gelassen hätte, beschloss sie, das Geheimnis ihres Vaters zu lüften. Aber wo konnte der Schlüssel sein? Vielleicht hatte ihr Vater den Schlüssel fortgeworfen, oder sie selbst hatte ihn in den vergangenen drei Jahren, die sie nun das Antiquitätengeschäft führte, weggeworfen, weil sie nicht wusste, zu welchem Schloss er gehörte. Sie hatte schon so vieles aus dem Nachlass ihres Vaters zum Müll gegeben.
Frustriert