Langsam trat sie zurück. Sie spürte wieder die fleischige und harte Hand der Frau, die ihr damals zärtlich übers Haar gestrichen hatte. Um die Berührung aus ihrer Erinnerung zu tilgen, legte sie ihre eigenen Hände auf den Kopf und presste mit aller Kraft, aber das Gefühl, die Empfindung der fleischigen Hand, vermochte sie dadurch nicht zu vergessen. Schließlich rannte sie aus der kleinen Küche in den Verkaufsraum zur Eingangstür. Dort drehte sie das Schild an der Tür um, so, dass der Aufdruck »geschlossen« von außen lesbar war, und verriegelte die Tür. Danach ging sie durch den Laden zum Hinterausgang, schaltete das Licht ab und sperrte auch noch die hintere Tür vom Treppenhaus aus zu. Sie lief die Treppe in den ersten Stock. Dort schloss sie ihre Wohnungstür hinter sich zweimal ab. Im Schlafzimmer schleuderte sie ihre weißen Sandalen von den Füßen. Dann warf sie sich aufs Bett, ohne sich auszuziehen, verkroch sich unter der Bettdecke und schloss die Augen.
Sie wollte schlafen. Sie hoffte, das Bild der Frau und die Erinnerung an ihre Hand im Schlaf vergessen zu können. Aber der drohende Blick und die Last der schweren Hand gingen Salvina nicht mehr aus dem Kopf. Wieder und wieder sah sie die starren und verbitterten Augen vor sich. Noch immer spürte sie die grobe Zärtlichkeit, mit der diese Frau ihr damals über den Kopf gestrichen und sie dabei mit ihrer rauen Hand an den Haaren gezogen hatte. Salvina konnte nicht schlafen, nicht zu dieser Tageszeit. Nicht, solange sie an diese rauen Hände, an diese Frau denken musste.
Sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Aber woran sollte sie denken? An schöne Erlebnisse? Spontan fiel ihr keines ein. Deshalb begab sie sich auf die Suche nach einem schönen Erlebnis in ihrem Gedächtnis. Sie dachte an gestern, an vorgestern. Sie dachte an die vergangene Woche, an die vergangenen Monate. In ihren Gedanken lief sie Jahr für Jahr zurück, ihrer Pubertät entgegen. Es gab Zeiten schöner Erlebnisse, Momente des Glücks, die sie in den vergangenen drei Jahren vergessen hatte. Plötzlich tauchten sie wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Plötzlich fiel es ihr wieder ein, dass auch sie lachen konnte. Aber bei keinem dieser Ereignisse verweilte sie, immer weiter ging sie in ihrer Erinnerung zurück, ohne zu wissen, wohin sie wollte. Doch plötzlich beendete sie ihre Fahrt in die Vergangenheit.
Sie war gerade fünfzehn und verliebt. Er hatte schwarzes, längeres Haar, ein Moped, eine sportliche Figur, war groß und vom ersten Tag an der Schwarm aller Mädchen in der Schule. In den Sommerferien war er mit seinen Eltern in Salvinas Stadtteil gezogen. Sein nettes und weiches Gesicht gefiel ihr vom ersten Augenblick an. In den Pausen stand sie von nun an unbeteiligt bei ihren Freundinnen und wartete nur noch darauf, ihn zu sehen.
»Salvina! Hallo! Lebst du noch? Oder hat er dir schon den Verstand geraubt?« Als Iris dies sagte, begannen all ihre Freundinnen zu lachen. Doch wenn Valerian in ihre Richtung sah, dann lächelten sie ihm alle zu.
Iris war Salvinas beste Freundin, mit ihr ging sie täglich zur Schule und mittags wieder nach Hause. Sie trafen und trennten sich unweit von Salvinas Haus.
»Hast du gesehen, wie er mich heute angeschaut hat? Ich glaube, ich gefalle ihm«, sagte Salvina an diesem Tag auf ihrem gemeinsamen Nachhauseweg.
»Ich glaube, dem gefallen alle Mädchen. Und zurzeit gefällt ihm Sandra am besten«, erwiderte Iris mitfühlend.
»Du lügst!«
»Nein, Salvina, die ganze Schule weiß es schon. Nur du hast es noch nicht bemerkt. Vergiss ihn!«
Salvina sprach den restlichen Weg kein Wort mehr. Auch Iris verstummte. Erst als sich ihre Wege trennten, durchbrach Iris das Schweigen:
»Wenn es dir recht ist, komme ich so gegen drei zu dir.« Da Salvina nicht antwortete, sprach sie weiter: »Ich musste es dir sagen. Ich finde, es ist besser, du vergisst ihn jetzt, bevor du dich wirklich in ihn verliebst. Ich weiß, wie schwer es für dich ist. Er ist ein sehr netter Junge, aber er war noch mit keiner länger als eine Woche zusammen. Stell dir vor, er würde dir nach einer Woche den Laufpass geben und mit einer anderen gehen. Denkst du, du würdest damit klarkommen, so empfindlich, wie du bist?«
Zu Hause legte sich Salvina aufs Bett und heulte. Als Iris sie am Nachmittag besuchte, hatte sie den ersten großen Schmerz überwunden. Die darauf folgenden Tage erlitt sie noch viele schwere Attacken von Liebeskummer, doch als sie Valerian und Sandra nach wenigen Tagen das erste Mal Arm in Arm gesehen hatte, mischte sich unter ihren Liebeskummer Wut auf Sandra. Zwei Wochen später übertrug sie diese Wut auf Agnes. Als er nach kurzer Zeit auch Agnes wegen einer anderen verlassen hatte, und sie bemerkte, dass er in all den vergangenen Wochen keinen Blick auf sie geworfen hatte, konnte sie sich allmählich von seiner Anziehung befreien. Sie hätte es nie überwunden, nach wenigen Wochen wegen einer anderen verlassen zu werden. Sie brauchte Beständigkeit und echte Liebe. Schon damals.
»Weißt du, was ich bei Liebeskummer mache?«, fragte Iris am Nachmittag in Salvinas Zimmer. »Ich höre mir ganz laut Orgelmusik an. Die ist so schön schwermütig. Darauf kann ich wunderbar heulen. Mein Vater hat viele Aufnahmen von Orgelkonzerten. Die leihe ich mir dann heimlich aus. – Du hast keine Orgelmusik? Schade. Dein Vater auch nicht?«
»Mein Vater hört keine Klassik. Der ist doch den ganzen Tag nur mit seinen blöden Antiquitäten beschäftigt. Da lässt er sich vom Schlagerradio einlullen. Das passt zu ihm und dem alten Trödel.«
»Meine Mama sagt, dein Vater wäre früher anders gewesen, fröhlicher und netter.«
»Du meinst, als meine Mama noch gelebt hat. – Danke, Iris. Du bist wirklich eine gute Freundin. Glaubst du, es macht mir nichts aus, dass meine Mama tot ist?«
»Es tut mir leid, Salvina. Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst. Aber du kannst doch nichts dafür.«
»Wenn ich nicht wäre, dann würde meine Mama noch leben.«
»Woher willst du das wissen? Vielleicht wäre sie an einer Krankheit, etwa an Krebs gestorben.«
»Sie ist wegen mir gestorben. Nicht an Krebs und auch nicht an einer anderen Krankheit, sondern weil sie mich bekommen hat. Begreifst du das denn nicht?«
»Aber dich trifft keine Schuld.«
»Das weiß ich auch selbst. Aber es nützt mir nichts. Sie ist trotzdem nach meiner Geburt gestorben. Daran kann niemand mehr etwas ändern. Meine Mama ist gestorben, weil sie mir das Leben geschenkt hat.«
Iris hatte keine Geschwister. Sie liebte Salvina wie ihre eigene Schwester. Sie nahm Salvina in die Arme und drückte sie fest an sich. Sie wusste, dass sie ihr den Schmerz nicht nehmen konnte. Aber ihr beistehen, sie begleiten, ihr Wärme und Geborgenheit geben, das konnte sie. Das hatte sie Salvinas Vater voraus.
Arm in Arm weinten beide Mädchen, und keine wusste mehr, dass Salvina wegen Valerian weinte. Auch Valerian hatte es nie erfahren. Er hatte auch Salvinas Interesse an ihm nie bemerkt.
Plötzlich ließ Iris ihre beste Freundin los, horchte auf und fragte erstaunt: »Hörst du das?«
Salvina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und erwiderte: »Was soll ich hören?«
»Die Musik.«
»Ich höre keine Musik. Ich höre nur die alte Uhr meines Vaters im Wohnzimmer.«
»Das ist Musik. Ich liebe die Stundenschläge von Standuhren. Die sind genauso schwermütig wie Orgelkonzerte. Darf ich die Uhr sehen und eine Stunde vorstellen?«
»Bist du verrückt? Mein Vater bringt mich um, wenn ich dich an seine Uhr lasse.«
»Und im Lager? Hat er da auch welche?«
»Ich glaube schon. – Nein Iris, das kann ich nicht machen.«
»Ach komm schon Salvina. Wenn er mehrere hat, dann gibt das ein tolles Konzert, das verspreche ich dir.«
Salvina schüttelte verzweifelt den Kopf. Dann holte sie vom Schlüsselbrett den Ersatzschlüssel für das Lager, und gemeinsam schlichen sie durchs