Salvinas Träume. Stefan von der Weide. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan von der Weide
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738033298
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zu, damit der tiefe, dumpfe Ton der Stundenschläge sich nicht über den Kellergang ins Treppenhaus ausbreiten konnte. Sie glaubte fest, dass ihr Vater sie und ihre Freundin beim Gang in den Keller nicht bemerkt hatte, und sie glaubte auch, dass er durch die geschlossenen Türen hindurch den Klang der Uhren nicht hören konnte. Trotzdem sah sie immer wieder ängstlich zur Tür.

      All die vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, hatte Salvina nicht mehr an diesen Tag gedacht. Doch jetzt – da sie auf ihrem Bett lag und versuchte, sich schöner Erlebnisse zu besinnen – konnte sie wieder jedes Detail dieses Tages vor sich sehen. Sie konnte sich dabei beobachten, wie sie in dem düsteren Licht gemeinsam mit Iris in die entlegenste Ecke zu den drei hohen Standuhren ging und eine nach der anderen in Gang setzte. Bei allen Uhren stellten sie die Zeiger auf eine Minute vor zwölf, zogen sie auf und warteten gespannt auf das Konzert gegen Liebeskummer. Zeitgleich gaben alle Uhren ihre Komposition zum Besten. Das Lager erschallte in einem ohrenbetäubenden Wunder aus tiefen, durchdringenden Klängen. Salvina hatte den Eindruck, als würde das ganze Inventar mitschwingen und selbst diese warmen Töne entstehen lassen. Auch ihr eigener Körper wurde erfüllt von der Musik und schwang in dem berauschenden Rhythmus des Klangzaubers mit, der sie gleichzeitig auf eine gewisse Art beruhigte. Sogar als der letzte Ton geschlagen wurde, schwang die Melodie eine Zeit lang noch weiter im Raum, wurde leiser und leiser, bis sie allmählich doch verstummte.

      Salvina war so begeistert, dass sie die Uhren gleich nochmals stellen wollte, doch dann sah sie am Boden des Gehäuses einer der Standuhren einen Schlüssel liegen. Es war ein einfacher, dunkel angelaufener Schlüssel mit einem ringförmigen Griff. Sie bückte sich, nahm ihn und drehte ihn achselzuckend zwischen den Fingern. Dann öffnete sich die Tür, und ihr Vater stürmte herein.

      »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte er. »Der Lärm dröhnt durchs ganze Haus! Was machst du überhaupt hier unten! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du hier unten nichts verloren hast!«

      Mit offenem Mund standen die beiden Mädchen wie angewurzelt und sahen Salvinas Vater mit großen Augen an. Er eilte zu ihnen und schloss von allen drei Standuhren die Glastüren. Dann bemerkte er, dass Salvina etwas in ihrer Hand hielt.

      »Was hast du da?«, schrie er sie an. Als sie ihm den Schlüssel zeigte, schrie er noch lauter: »Verdammt noch mal! Fass diesen Schlüssel ja nicht mehr an! Geh sofort in dein Zimmer und lass dich hier nie mehr blicken!«

      Er riss ihr den Schlüssel aus der Hand, und Salvina und Iris verschwanden geknickt in Salvinas Zimmer.

      Anhaltende schrille Töne verdrängten die Stille im Raum, als hätte ein plötzlicher Stimmbruch die Stimmlage der Stundenschläge ins Unerträgliche erhöht. Salvina schreckte auf. Zuerst fand sie sich nicht zurecht, sie vermisste Iris und die langen, schwingenden Perpendikel der drei Standuhren. Nach dem ersten Schock sank sie zurück auf das weiche Bett und kam fast wieder zur Ruhe. Doch dann ließ ein weiteres schrilles Läuten sie noch einmal zusammenfahren. Plötzlich wusste sie wieder, wo sie war. Mit zittrigen Knien sprang sie aus dem Bett, hastete durch den Gang und öffnete die Wohnungstür. Klara stand draußen und hob gerade die Hand, um ein weiteres Mal den Klingelknopf zu drücken.

      »Hallo Salvina, ich fand deinen Laden verschlossen, deshalb wollte ich nachsehen, ob du krank bist und etwas brauchst.«

      »Danke, das ist lieb von dir, aber ich bin in Ordnung«, antwortete Salvina mit belegter Stimme und senkte den Blick zum Boden.

      Eine abwartende Stille trat zwischen die beiden. Klara musterte sie. Schließlich fügte Salvina ihren Worten noch hinzu: »Doch, doch, es geht mir gut.«

      »Hast du geschlafen?«, fragte Klara.

      »Ich weiß es nicht. Zumindest habe ich von meiner Jugend geträumt. Ob ich dabei geschlafen habe, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall war ich weit weg.«

      Klara packte Salvina am Arm und drückte sie zurück in die Wohnung. Sie schob sie durch den Gang und quer durch das Wohnzimmer auf das Sofa. Als beide saßen, sagte sie:

      »So, ich bleibe hier, bis du mir erzählt hast, warum du am Montagnachmittag deinen Laden zusperrst und statt dich um deinen Lebensunterhalt zu kümmern, im Bett liegst.«

      Salvina sah sie mit großen Augen an. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte sich in diesem Moment nicht aus Klaras Umklammerung befreien können. Klara war die Autorität in Person. Ihr strenger Blick, ihre aufrechte Sitzhaltung, und Salvina sank immer tiefer in das Sofa, wurde kleiner und kleiner, bis sie sich wie ein Kind fühlte, das vor der Mutter Rechenschaft ablegen musste. Also erzählte sie ihr von ihrer Vision, die sie am Morgen hatte. Und sie erzählte ihr von der Bitte ihres Vaters, sie solle etwas nicht tun.

      »Das war keine Vision«, fuhr Klara dazwischen, »das war ein harmloser Traum. Du darfst die Bedeutung deiner Träume nicht überbewerten, das habe ich dir schon oft gesagt. Es kommt mir immer mehr so vor, als wolltest du die Langeweile deines Leben damit kompensieren, dass du alles dramatisierst. Außerdem ist dies kein Grund für deine Abwesenheit im Laden.«

      Dann erzählte Salvina von ihrer Jugenderinnerung und der Reaktion ihres Vaters wegen des alten Schlüssels.

      »Mein Vater war ansonsten ein sehr ruhiger und geduldiger Mensch«, fuhr sie fort. »Sein Aufbrausen kann nur bedeuten, dass der Schlüssel von besonderer Bedeutung für ihn war. Und es kann auch kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet heute diese Erlebnisse und Erinnerungen habe. Ich wollte damit beginnen, den Lagerbestand meines Vaters zu erfassen.«

      »Und deshalb vergräbst du dich in deinem Bett? – Komm, wir gehen jetzt nach unten und sperren deinen Laden wieder auf. Du kannst es dir nicht leisten, deine Kundschaft im Regen stehen zu lassen und dein Leben mit sinnlosen Grübeleien zu vergeuden, nur weil du von deinem toten Vater geträumt hast.«

      »Ich kann mich jetzt nicht um den Laden kümmern.«

      »Solange du dir diese Frage stellst, wirst du deine finanzielle Situation nicht verbessern. Du musst dich um das Geschäft kümmern, oder du arbeitest wieder in deinem alten Beruf. Hast du schon vergessen, wie oft du früher mit deinen Nerven am Ende warst? Im Vergleich dazu geht es dir heute gut.«

      »Du verstehst mich nicht: Damals, als ich mit Iris im Lager war, waren sowohl die Standuhren als auch der Kleiderschrank frei zugänglich. Mein Vater hatte also erst später die Truhen und Stühle davor gestapelt. Außerdem steht der Schrank nicht an der Wand. Deshalb bin ich mir sicher, dass hinter dem Schrank noch etwas ist. Wie es aussieht, wollte mein Vater etwas vor mir verbergen.«

      »Das ist über zehn Jahre her! Ich glaube nicht, dass sich dein Vater so wenig um die Dinge im Lager gekümmert hat, wie du. Es ist also normal, dass sich das Gesicht eines Lagers über die Jahre verändert. Manches wird verkauft, anderes kommt hinzu.«

      »Das Lager hat sich auch verändert, aber nicht diese Ecke.«

      »Du glaubst also, dein Vater hätte vor dir ein großes Geheimnis gehütet, und dieses ominöse Geheimnis lagert in deinem stickigen Keller hinter einem alten Kleiderschrank.«

      »Ja, das glaube ich.«

      »Wahrscheinlich hast du recht. Ich denke auch, dass dein Vater Anrüchiges im Lager vor dir versteckt hat: Staubmäuse. Vielleicht auch Kellerasseln. Oder Silberfische.«

      »Klara!«

      »Nein Salvina, dafür habe ich kein Verständnis. Du verrennst dich in eine Wahnidee.«

      Salvina stöhnte und sah ihre Freundin von unten herauf an. Sie war enttäuscht. Dann sagte sie: »Da ist noch etwas.«

      »Was meinst du damit?«

      »Heute sah ich eine ältere Frau vor meinem Küchenfenster, die mich einmal auf der Straße vor dem Laden angesprochen hatte, als ich noch ein Kind war.« Salvina stockte.

      »Eine ältere Frau. Und weiter?«, drängte Klara.

      »Na ja, wie soll ich sagen? – Damals hat sie mir von einem Mädchen erzählt, dem ich angeblich sehr ähnlich gesehen habe.« Wieder stockte Salvina.

      Klara rückte noch näher an sie heran. Ungeduldig