Betim hätte gern mehr über den Mann erfahren, aber der Hofmeister fürchtete sich anscheinend ebenfalls vor ihm und wollte sein Wissen nicht preisgeben. Warum sollte er auch einem Fremden seine Geheimnisse enthüllen, noch dazu einem Achtjährigen?
Der Hofmeister brachte ihn zu der Kutsche im ersten Hof zurück und half ihm beim Einsteigen. Dann wies er den Kutscher an, Betim in Galata am Konak eines Gelehrten namens Ibrahim abzusetzen, der an der Medrese gegenüber vom Goldenen Horn lehrte, die zur Stiftung der Süleymaniye-Moschee gehörte. Der Mann sei in dem Viertel wohlbekannt. Mit einem lauten Knall seiner Peitsche verabschiedete sich der Kutscher von dem Hofmeister, und unter störrischem Wiehern setzten sich die Pferde in Bewegung.
Aus dem Großherrlichen Tor heraus ging es die gepflasterte Gasse hinunter zum Hafen am Goldenen Horn. Dort lagen einige kleine Boote vertäut, die neben einzelnen Passanten auch ganze Kutschen ans gegenüberliegende Ufer von Karaköy beförderten.
In Karaköy trieb der Kutscher sein Gefährt durch die engen Gassen, bis sie schließlich den Marktplatz von Galata erreichten. Dort fragte er den Besitzer der Verkaufswerkstatt neben dem Kaffehaus von Sami nach dem Gelehrten, und Hüseyin schickte ihm seinen Lehrling mit.
Der Kutscher folgte ihm langsam, stoppte wenig später vor Ibrahims Haus und betätigte den schweren Türklopfer am rechten Flügel des Tores. Damit signalisierte er den Bewohnern, dass ein Mann vor der Tür stand und dass dementsprechend auch ein Mann die Tür aufmachen sollte. Denn die Frauen des Hauses sollten sich keinem fremden Besucher unverschleiert zeigen. Neben diesem schweren Türklopfer hing ein weiterer kleinerer Klopfer, der einen helleren Ton erzeugte. Er war für die weiblichen Gäste gedacht.
Es war Said, der ihnen öffnete. An diesem Nachmittag war er früher aus der Schule gekommen, weil sich Salih Hodscha eine Erkältung zugezogen hatte und das Bett hütete. Der Mülasim, ein Vertreter des Hodschas, hatte die ersten Stunden übernommen und die Kinder gegen Mittag nach Hause entlassen. Sicherheitshalber fragte der Kutscher ihn nochmals nach dem Besitzer des Konaks, dann ließ er Betim samt seinem spärlichen Gepäck aussteigen. Als der Kutscher seine Pferde schon wieder die Peitsche schmecken ließ, begrüßten sich Betim und Said mit einer scheuen Geste. Schnell stellten sie fest, dass es ein großes Problem gab. Betim verstand kein Türkisch und Said kein Albanisch.
Kurze Zeit später kam auch Afife herunter, um zu sehen, wer da gekommen war. Als sie Said dort mit einem fremden Jungen stehen sah, begriff sie schnell, dass er das angekündigte Ziehkind sein musste. Doch auch sie hatte ihre liebe Mühe und Not, mit ihm zu kommunizieren. Gemeinsam stiegen sie die Treppe ins Obergeschoss hinauf, und die Jungen nahmen auf dem Diwan Platz. Afife brachte den beiden Plätzchen, die sie gestern gebacken hatte, und Himbeersaft dazu. Gegen Abend versammelte sich die ganze Familie. Nun begrüßten auch Halil Agha und Ibrahim ihren jungen Gast. Glücklicherweise hatte Halil Agha früher öfter mit albanisch-stämmigen Janitscharen zu tun gehabt und dabei einige Wörter und Wendungen aus ihrer Sprache aufgeschnappt.
Ibrahim wiederum sprach fließend Arabisch und unterhielt sich gelegentlich mit bosnischen Danischmends, die kurz vor einem Medrese-Abschluss standen. Dabei hatte auch er ein paar Brocken Albanisch gelernt.
Es wurde ein langer Abend, weil alle viele Fragen an Betim hatten. Schließlich würde er von nun an einige Jahre bei ihnen wohnen. Als sie gegen Mitternacht zu Bett gingen, äußerte Betim den Wunsch, in Saids Zimmer zu schlafen. Betim hatte ihn auf Anhieb sehr gemocht.
Am nächsten Morgen entschuldigte sich Said bei Betim dafür, dass er ihn nun allein lassen musste, versicherte seinem neuen Freund aber, ihm nach der Schule das ganze Viertel zu zeigen: die Moschee, die Läden und die Menschen. Für Said war es eine große Herausforderung, sich ohne viele Worte zu unterhalten. Aber das tat seiner Begeisterung keinen Abbruch. Er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie sich auch weiterhin gut verstehen würden.
Kapitel 3
Hohe Pforte
Begleitet von einer tiefen Verbeugung und wohlfeilen Worten, übergab der in osmanische Beamtentracht gekleidete persische Abgesandte Köse Musa ein versiegeltes Schreiben von seinem Auftraggeber, dem persischen Schah Karim Khan. Dann drehte er sich um und verließ ohne weitere Erklärung den Raum. Misstrauisch studierte Köse Musa die Schriftrolle, die er in Händen hielt. Er brach das Siegel auf und las:
Musa, mein ergebener Freund. In dem Moment, in dem Ihr diese Zeilen überfliegt, sprechen gerade zwei Kinder in Eurem Palast vor und bitten um Aufnahme. Die beiden kommen von mir, und sie geben sich als Geschwister aus, obwohl sie sich noch gar nicht kannten, als sie von hier aufbrachen. Der Junge heißt eigentlich Farhad und das Mädchen Parwin. Weil ihre richtigen Namen aber zu Persisch klingen würden - wenn Ihr versteht, was ich meine - habe ich sie Kamil und Kamile genannt. Eure Sprache beherrschen sie schon von Kindesbeinen an. Nun sollen sie so ausgebildet werden, dass sie später einmal die Interessen meines Landes verfechten können. Es wäre mir lieb, wenn Ihr ihnen ermöglicht, in hohe Ränge aufzusteigen und zu zuverlässigen Informanten zu werden. Wem, wenn nicht Euch, könnte ich in dieser delikaten Angelegenheit vertrauen? Schließlich verfolgen wir doch beide dasselbe Ziel: den Untergang der Osmanen. Wir werden ihnen von innen wie von außen die Luft abschnüren. Von außen unterstützt uns übrigens auch die russische Kaiserin Katharina nach Kräften. Also, nehmt Euch der beiden Kinder an, und weist sie ein.
Auf gute Zusammenarbeit,
Karim Khan, Wakil der Zand-Dynastie und Herrscher über den Orient.
Auch wenn die Perser die meisten Schlachten gegen die Osmanen verloren hatten, fühlten sie sich ihnen seit Jahrhunderten überlegen. Alle militärische und politische Macht lag bei den Osmanen. Trotzdem ließen es sich die Perser nicht nehmen, immer wieder Intrigen zu spinnen, um ihnen zumindest auf diesem Wege zu schaden. Und Köse Musa war für diese Art von Intrigen empfänglich. Ihn verband schon seit längerer Zeit eine Kollaboration mit dem Schah, von der er persönlich zu profitieren hoffte.
Beide waren bestrebt, das Reich aufrechtzuerhalten. Während es jedoch Köse Musa darum ging, seine eigene Herrschaft an die Stelle der osmanischen Dynastie zu setzen, versuchte der Schah die Schia, zweitgrößte Konfession im Islam, zu verbreiten und somit das sunnitische Reich mit diesem Gedankengut zu unterwandern. Jedoch war das Osmanische Reich sehr groß.
Köse Musa Pascha und einige ähnlich denkende Staatsmänner im Reich reichten nicht aus, um unter anderem die Ziele Teherans zu verwirklichen. Daher bedurfte es vieler Informanten, die heimlich im Palast erzogen wurden, um später entsprechend eingesetzt zu werden. Farhad und Parwin waren zwei von Hunderten solchen Kindern.
Ohne weitere Zeit zu verlieren, ließ er nach den beiden Kindern rufen. Kurze Zeit später führte sein persönlicher Leibdiener sie herein. Köse Musa hieß seine kleinen Gäste willkommen und breitete die Arme aus, so als wolle er sie umarmen. Ganz entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten rang er sich ein Lächeln ab und bat sie, auf dem Diwan ihm gegenüber Platz zu nehmen. Der Junge erwiderte seinen Gruß und setzte an, sich vorzustellen: „Ich bin Kamil, und das ist meine Schwester Kamile. Wir kommen, um...“Doch sofort fiel ihm Köse Musa ins Wort und zeigte sein wahres Gesicht. Denn es war ihm unerträglich, wenn Untergebene, und seien es Kinder, unaufgefordert zu ihm sprachen.
„Ich weiß, ich weiß. Du brauchst mir nicht zu verschweigen, dass ihr eigentlich Farhad und Parwin heißt. Karim Khan, mein gütiger Freund, hat mir den Grund eures Aufenthalts mitgeteilt. Ein langes Gespräch erübrigt sich also. Ich werde euch in den Sultanspalast aufnehmen, und ihr werdet euch umgehend in euer neues Leben einfügen. Bemüht euch, das Vertrauen eurer Ausbilder zu gewinnen. Eifer, Hingabe und Disziplin sind dafür unabdingbar. Alle weiteren Fragen wird euch mein Leibdiener beantworten. Er ist eingeweiht.“
Die Eltern der beiden Kinder mussten so einiges einstecken. Die Soldaten