Nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatten, begriffen sie, dass sie sich besser aus dem Staub machen sollten. Doch der Raki, der Anisschnaps, dem sie zuvor offensichtlich reichlich zugesprochen hatten, zeigte Wirkung. Nach wenigen Schritten schon geriet der eine der beiden ins Taumeln. Verzweifelt klammerte er sich an den Oberarm des anderen und brachte dadurch auch ihn aus dem Gleichgewicht. Wie zwei zentnerschwere Mehlsäcke fielen sie zu Boden.
Stavros, der dreijährige Sohn der Griechen Lisias und Daphne, reagierte als Erster. Er nutzte die Gunst der Stunde und verpasste den Gestürzten einige Fußtritte in den Hintern. Die Leute johlten vor Vergnügen. Tief beschämt suchten die beiden Unruhestifter das Weite. Lisias schloss seinen Sohn lachend in die Arme. Dann wandte er sich an seinen gleichaltrigen Nachbarn Ibrahim, den er schon von Kindesbeinen an kannte. Zusammen hatten sie die Nachbarschaft damals mit ähnlichen Frechheiten zum Lachen gebracht wie heute sein Sohn.
„Ich hoffe, dass mein Sohn deine Rückenschmerzen etwas lindern konnte. Diese Aufmüpfigkeit hat er von mir geerbt. Tut es noch weh?“
„Nein, ich kapituliere doch nicht vor so einem kleinen Schubs und schon gar nicht vor diesen Gestalten“, entgegnete Ibrahim.
Said rannte zu seinem Vater, schmiegte sich an dessen rechtes Bein und schaute zu ihm auf. Ibrahim streichelte ihm über das Haar, beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf beide Wangen. Auch Afife und Destegül kamen angelaufen und erkundigten sich besorgt nach seinem Zustand. Dann verabschiedeten sie gemeinsam ihre Gäste. Der kleine Stavros winkte Said zum Abschied aus den Armen seines Vaters zu.
Kurz darauf forderte Halil Agha die jungen und kräftigen Nachbarn mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, dazu auf, den Festplatz aufzuräumen. Und so waren die Ladenbesitzer ebenso wie die Schulkinder im Nu wieder mit ganz anderen Dingen beschäftigt.
Said und Mersed schlugen mit ihren Eltern und Geschwistern den Heimweg ein. Und als Ibrahim seinen Bruder Adil Bey einlud, den angebrochenen Abend gemeinsam zu verbringen, nahmen er und seine Familie diese Einladung gerne an. Zusammen marschierten sie zum Konak von Ibrahim, in dessen Obergeschoss auch Großvater Halil Agha wohnte.
Ein riesiges hölzernes Tor mit zwei massigen Flügeln trennte den Konak von der Gasse. Im Alltag blieben sie jedoch fast immer verschlossen; die Bewohner des Hauses benutzten lediglich eine in den rechten Flügel eingelassene schmale Tür, um ein- und auszugehen. Durch den überdachten Hof betraten sie das Herrenhaus und stiegen die Treppe zur großen Mittelhalle hinauf. Halil Agha setzte sich ans Fenster. Diese Flanke des Konaks besaß einen Erker, auch Dschumba genannt, der fünf Fuß in die Gasse hinausragte.
Halil Agha hieß Said zu seiner Linken und sein anderes Enkelkind Mersed zu seiner Rechten Platz zu nehmen, und auch Destegül, Dilruba und Hayrunnisa, Merseds Schwester, suchten seine Nähe. Er liebte seine Enkelkinder und sonnte sich in der Wärme, die sie ihm, ihrem Großvater, gegenüber ausstrahlten. Nadire setzte frischen Kaffee auf, dessen Zubereitung jedoch ein wenig Zeit beanspruchte.
Währenddessen unterhielten sich die Väter und der Großvater über den heutigen Tag. Ibrahim und Adil Bey hatten es sich gegenüber vom Kamin an der rechten Wand gemütlich gemacht. Freudige Erwartung machte sich breit. Denn Halil Agha wusste zu jedem Anlass eine spannende Geschichte zu erzählen, und das würde er bestimmt auch gleich wieder tun. Doch Said kam ihm zuvor und fragte ihn nach den zwei Unruhestiftern auf dem Marktplatz. Schließlich war der Großvater selbst Janitscharen-Agha gewesen und sollte diese Leute daher eigentlich gut kennen.
„Was wollten die beiden Soldaten von unserer friedvollen Versammlung? Warum mussten sie sich so unbeliebt machen, obwohl wir ihnen doch immer mit Respekt begegnen. Sind alle Soldaten so schlimm oder nur diese beiden? Und wieso waren sie angetrunken, obwohl sie doch den gleichen Glauben haben wie wir?“
Halil Agha sortierte zunächst kurz seine Gedanken. Dann antwortete er:
„Es ist schon lange her. Ich war gerade 20 Jahre alt und vom Zögling zum Janitscharen befördert worden, da drückte mir mein Agha einen Säbel in die Hand und befahl mir, auf Patrouille zu gehen. Damals verging kein Tag, an dem sich nicht ein Überfall auf unschuldige Passanten ereignete. Handwerker und Verkäufer klagten über schlecht laufende Geschäfte, Staatsbedienstete wurden bedroht, und junge Frauen fürchteten um ihre Jungfräulichkeit.
Auch der Kadi, der Richter, wusste sich nicht weiterzuhelfen und bat den Sultan um mehr militärische Unterstützung. Hinter dem Galata-Turm gab es eine Schänke, die von einem kleinwüchsigen Wirt betrieben wurde. Sie war bekannt dafür, dass sich dort Gesindel und Gauner trafen. Zusammen mit einem anderen Janitscharen sollte ich sie kontrollieren, also gingen wir hin.
An Weinfässern, die als Tisch dienten, saßen einige Männer und tranken Raki. Sie unterhielten sich lauthals, aber alles schien friedlich. Wir fragten den Wirt, ob es an diesem Tag schon Probleme gegeben hätte. Der griechische Akzent verriet uns seine Herkunft. Er verneinte und nahm weitere Bestellungen auf, die ihm seine Gäste entgegenbellten.
Offensichtlich begegnete er uns Soldaten nicht gerade mit Wohlwollen, jedenfalls zollte er uns trotz unserer Uniform keinerlei Respekt. Und wer wollte es ihm verdenken, da er in diesem Milieu wahrscheinlich nur mit solchen Soldaten zu tun hatte, die ihn in seiner Meinung bestärkten. Denn auf einmal stürmten zwei Janitscharen gefolgt von zwei Komplizen in Zivil brüllend und marodierend in die Schänke und stießen alle, die ihnen im Weg standen, rücksichtslos zur Seite. Halbvolle Gläser zerschellten am Boden, aber niemand brachte einen Ton heraus. Keiner wollte sich mit den Störenfrieden anlegen. Auch der Wirt duckte sich hinter seinen Tresen, obwohl die vier Eindringlinge es gar nicht auf ihn abgesehen hatten.
Vielmehr knöpften sie sich scheinbar wahllos einige Gäste vor und schlugen auf sie ein. Uns bemerkten sie jedoch zunächst nicht. Als der eine von ihnen einen weiteren Faustschlag anbringen wollte, trat ich entschlossen dazwischen und schleuderte ihn in die Ecke. Sodann entbrannte ein heftiger Kampf, an dessen Ende mein Freund und ich den Sieg davontrugen. Die vier Schläger verließen panikartig die Schänke, ohne sich auch nur noch einmal umzublicken.“
„Ähnlich wie heute“, unterbrach ihn Mersed.
„Aber warum werden Soldaten handgreiflich, wenn ihnen doch niemand etwas getan hat oder tun will?“, hakte Said noch einmal nach.
„Jeder hat seine eigenen Beweggründe, mein Sohn, aber nicht jeder Grund ist zu rechtfertigen“, fuhr sein Großvater fort. „Den Janitscharen ging es damals nicht gut. Aufgrund der schlechten Finanzen konnten die Sultane nicht mehr wie früher alle drei Monate einen Sold zahlen. Aber ein großes Reich braucht Soldaten, die einen angemessenen Lohn bekommen; schließlich müssen sie ja auch von etwas leben.
Allerdings war der ausbleibende Lohn nicht der einzige Grund für ihr übles Benehmen. Die ersten Janitscharen hatten noch nicht einmal heiraten und ein ziviles Leben führen dürfen wie wir. Sie waren die Leibwächter der Sultane gewesen und hatten einzig und allein für das Wohlergehen ihrer Herren gelebt, gewissermaßen als Söldner auf Lebenszeit. Mit der Zeit erhielten sie dann viele Rechte und Privilegien zugesprochen, die andere nicht besaßen. Nun führten sie nicht nur ein ziviles Leben, sondern betrieben sogar Geschäfte.“
„Obwohl sie nach wie vor vom Sultan bezahlt wurden? Aber das ist doch ungerecht“, mischte sich Mersed ein.
„Ja, aber so kam es nun einmal. Mit der Zeit entlockten sie ihren Herren immer mehr Zugeständnisse, bis sie dem Sultan schließlich sogar Befehle erteilen konnten und ihn zwangen, alles zu tun, was sie wünschten. Wenn gewöhnliche Untertanen gegen das Gesetz verstoßen, sorgen die Regenten mit Hilfe ihrer Soldaten für Ordnung, aber wenn die Janitscharen gegen das Gesetz verstoßen, wer soll sie dann bestrafen? Dann gibt es nur eines: Chaos. So mussten viele Sultane notgedrungen abdanken. Einige verloren deshalb sogar ihr Leben. Schrecklich zu hören, aber das ist eine Tatsache. Die Unruhen sind seitdem nicht mehr abgeebbt.“
Als Halil Agha an seinem Kaffee nippte, bemerkte er, dass er kalt geworden war.
Wenig später bedankte sich Adil Bey bei seinem Bruder Ibrahim für die Gastfreundschaft