Betim legte sich auf den Rücken und schaute zum Zeltdach auf. Er stellte sich vor, welches Leben er ab jetzt führen würde und fiel dabei langsam in Schlaf. Im Traum entfuhren seinen Lippen unverständliche Wortfetzen. Einmal glaubte sein linker Bettnachbar, ein eingebildeter Wuschelkopf aus dem nächstgelegenen Dorf, das Wort Großwesir verstanden zu haben. Er sprach Betim darauf an, doch dieser brummelte nur kurz, drehte sich zur anderen Seite und schlief sofort wieder ein.
In aller Frühe weckten die Lageraufseher die Knaben, und gemeinsam bereiteten sie die Kutschen für die Abreise vor. Dann ertönte der Schrei des Yayabaschi zum Aufbruch, und schon wälzten sich die Räder im Takt mit den Schritten der Pferde in Richtung Hauptstadt.
Betim und fünf weitere Kinder saßen in einer Kutsche, darunter auch der Wuschelkopf. Er war eine Nervensäge und bereitete Betim schlechte Laune. Wie sollte er diesen Mistkerl die ganze Zeit ertragen? Betim wusste nicht einmal, wie viele Tage die Reise dauern würde. Das hatte der Yayabaschi gestern nicht gesagt, und fragen wollte er auch nicht; denn er befürchtete, dass die anderen ihn für schwach halten und hänseln würden, zumal er der Kleinste war und sich kaum hätte wehren können.
Nach dem Tod seiner Mutter hatte er seinen Vater sagen hören, der Streit im Dorf habe sich daran entzündet, dass ein elfjähriger Junge mit wuscheligen Haaren aus dem Nachbardorf jemanden verleumdet hatte. War sein Weggefährte also der Auslöser des Handgemenges, bei dem seine unschuldige Mutter getötet worden war? Falls ja, würde er es bitter bereuen!
Aber nicht jetzt. Noch war er nicht stark genug, seine Mutter zu rächen, und außerdem musste er ganz sicher gehen, dass der Junge tatsächlich schuld war. Also verschob er die Angelegenheit auf einen späteren Zeitpunkt und verdrängte sie aus seinen Gedanken. Durch die Luken der Kutsche sah er die dichten Bäume des steinernen Waldes von Nostimo vorüberziehen. Mit dem Gezwitscher der Vögel erwachte der neue Tag allmählich zum Leben.
***
Einen Monat später erreichte der Kutschenzug nach beschwerlicher Reise Istanbul. Betim bewunderte die imposanten hohen Türme der Minarette der Blauen Moschee und staunte über die riesigen Menschenmassen. Straßenverkäufer, die ihre Waren feilboten, das Geklapper der Hufe auf den gepflasterten Gassen, herumtollende Kinder und die Rufe der Muezzins zum Mittagsgebet bildeten zusammen ein vielstimmiges Orchester.
Es war Spätsommer und die Sonne stand im Zenit. Die Jungen waren erschöpft von den Strapazen der Reise, und bevor sie den Sultanspalast betraten, brauchten sie dringend eine Erfrischung. Also geleitete man sie quer über den Sultanahmet-Platz zum angrenzenden Haseki-Hamam, das die berühmte Roxelane, die Frau von Sultan Suleiman dem Prächtigen, gestiftet hatte.
Mit einem Tuch, das als Lendenschurz diente, bekleidet, legte sich Betim für eine Weile auf die angenehm temperierte marmorne Liegefläche in der Mitte des Dampfbades. Anschließend übergoss er sich an einem der Waschbecken an der Seite des Raumes mit heißem Wasser und schrubbte sich mit einem Baumwollsack und Seife gründlich ab. Gern hätte er sich noch einmal auf die runde Platte gelegt und sich dann eine Ewigkeit nicht mehr von der Stelle gerührt, doch heute war der Tag, an dem sein neues Leben im Sultanspalast beginnen würde. Und schon hallte der unmissverständliche Befehl des Yayabaschi durch die Gewölbe. Laut und deutlich forderte er seine Truppe zum Gehen auf.
Inzwischen hatte sich Betim längst daran gewöhnt, herumkommandiert zu werden, und er machte sich keine Illusionen. Auch in seiner Ausbildung, vielleicht sogar sein ganzes Leben lang würde sich daran nichts ändern. Doch sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass dies eben der Lauf der Dinge sei. Der Obrigkeit musste Gehorsam geleistet werden. Sein armer Vater wäre nie auf die Idee gekommen, sich ihr zu widersetzen, auch wenn das Leben noch so gnadenlos sein konnte. Aber irgendwann würde Betim die Chance bekommen, selbst Kommandos zu erteilen. Und bestimmt wäre er dann ein barmherziger Befehlshaber.
Erneut bestiegen die Jungen ihre Kutschen, die sie zum Topkapi Palast, dem Sultanspalast gleich hinter dem Sultanahmet-Platz, bringen sollten. Vor ihnen öffnete sich das Großherrliche Tor, das aus Marmor gefertigte Bab-i Humayun, der Haupteingang des Palastes. Selbst das Tor der prunkvollen orthodoxen Kirche in Betims Dorf war nicht annähernd so reich verziert wie dieses. Ehrfurchtsvoll blickte er auf die ineinander fließenden arabischen Schriftzüge über dem Portal, die er nicht entziffern konnte.
Im angrenzenden ersten Hof empfing sie der Hofmeister mit einem freundlichen Lächeln. Er war von kleiner Statur, sprühte jedoch förmlich vor Energie und schenkte seinen neuen Gästen volle Aufmerksamkeit. Auch der Sultan schätzte ihn sehr und schickte ihn ganz bewusst vor, damit der erste Eindruck seiner Gäste positiv ausfiel. Der Hofmeister salutierte vor dem Yayabaschi und dessen Schreiber, die als Erste aus der Kutsche gestiegen waren. Betim wartete ungeduldig darauf, dass man auch sie herausrief.
Dann mussten sich die Jungen erneut in Dreierreihen aufstellen und abzählen lassen. Diese Zählungenhatten sie schon vom ersten Tag an durchgeführt, weil die Beamten fürchteten, dass sich andere Jungen, die nicht ausgewählt worden waren, auf Geheiß ihrer Eltern nachträglich einschlichen. Betim gefiel diese Prozedur nicht, er fühlte sich wie ein Schaf in einer Herde.
Danach geleitete der Hofmeister die Jungen in den zweiten Hof, damit sie in der Palastküche ein ordentliches Mahl zu sich nahmen. Es gab Fleischbälle auf Bulgur, eine kleine Schüssel Pflaumenkompott und einen Laib Gerstenbrot. Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, folgten sie dem Hofmeister in einen großen Saal mit aufwendigen blauen Fayencen und dunkelbraunen Holzverzierungen an der Decke.
In der Mitte des Raumes stand ein hochaufragender, thronartiger Stuhl, auf dem ein Mann saß, der großes Selbstbewusstsein, aber Hochmut und Verachtung ausstrahlte. Betim schätzte ihn auf Anfang Dreißig. Obwohl selbst also noch sehr jung, war er von betagten, vollbärtigen Männern und mehreren Wachen umgeben. Ohne ersichtlichen Anlass warf er den Neuankömmlingen feindselige Blicke zu und fuhr den Hofmeister an:
„Sind sie das?“
Auf den Boden starrend und die Hände vor dem Bauch gefaltet, bejahte der Hofmeister. Da erhob sich der Mann von seinem Stuhl und ging auf die Jungen zu. Er näherte sich einigen von ihnen, und auch Betim umkreiste er und musterte ihn kalt. Seine erniedrigenden, gefühllosen Blicke brachten Betim ins Schwitzen. Alles in ihm zog sich zusammen. Was würde nun passieren?
Plötzlich verlor der Mann das Interesse an den Jungen und schickte sie einen nach dem anderen hinaus. Doch als Betim ebenfalls den Saal verlassen wollte, befahl ihm der Mann über einen Dolmetscher, stehenzubleiben und sich umzudrehen. Schweißgebadet und verängstigt gehorchte Betim und schaute zögernd zu ihm auf. Erneut musterte ihn der Mann, diesmal jedoch genauer von Kopf bis Fuß. Dann gab er einige Worte von sich, die der Dolmetscher Betim umgehend übersetzte.
„Wie heißt du, Junge?“
„Betim, mein Herr.“
„Betim, aha. Du hast so verteufelt betrügerische Augen, Betim. Das gefällt mir. Aus dir kann viel werden. Wie dir ja wahrscheinlich bereits mitgeteilt wurde, werde ich dich in eine türkische Familie schicken, in der du die Sitten und Gebräuche dieses Landes kennenlernen sollst. Beschneiden lassen musst du dich erst einmal nicht, denn Knabenlese bedeutet nicht Zwangskonvertierung.
Du hast Glück und wirst nicht, wie die meisten anderen Jungen, nach Anatolien zu einer Bauernfamilie geschickt, sondern kommst in eine Familie hier in der Hauptstadt, die dich als Zögling aufnehmen wird. Wenn du reif genug bist, werde ich dich in den Palast zurückrufen lassen, jedenfalls wenn ich dann noch lebe. Es wird nämlich viele Jahre dauern.“
Dieser letzte Satz erleichterte Betim, weil er diesen Mann, der solchen Schrecken verbreitete, am liebsten nie wieder sehen wollte. Und außerdem: Was sollte diese Bemerkung zu seinen angeblich betrügerischen Augen? Sein ganzes Dorf wusste doch, dass Betim ein treuherziger, liebenswerter Junge war.
Der