Machtkampf am Bosporus. Said Gül. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Said Gül
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738098839
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      Seit dreihundert Jahren war der Basar das Zentrum der Handelsaktivitäten in der ganzen Region. Seine Einnahmen wurden der Haghia-Sophia-Stiftung gutgeschrieben, die damit die Unterhaltungskosten für die Haghia-Sophia-Moschee finanzierte. Der Basar war von einer Steinmauer umgeben, und das Gewicht seiner zwölf großen Kuppeln verteilte sich im Innern der Anlage auf mehrere dicke Säulen.

      Da der Basar in unmittelbarer Nähe des Schiffsanlegeplatzes von Karaköy lag, hatte er den Vorteil, dass die einzelnen Ladenlokale ohne große Wartezeiten oder Umwege direkt mit Ware beliefert werden konnten. Insgesamt beherbergte er an die hundert Läden. Juweliere, Stoffhändler, Schmiede, Gewürzhändler und viele andere Händler stellten ihre Produkte zur Schau, die zum Teil aus aller Herren Länder und zum Teil aus der eigenen Werkstatt kamen.

      Durch das rastlose Gewimmel von Käufern und Gepäckträgern hindurch bahnten sich Said und Halil Agha einen Weg zu Davids Laden, der, genau wie die anderen Schmuckgeschäfte, in der Mitte des Basars lag. Nach außen hin folgten dann die Teppichläden, die Schmieden und entlang der Außenmauer die Gewürzläden.

      Hocherfreut über den unerwarteten Besuch, erhob sich David von seinem Stuhl, umarmte Halil Agha und streichelte Said über die Haare.

      „Seid mir gegrüßt, meine Nachbarn. Was für eine Ehre, Halil Agha. Wie trinkst du deinen Kaffee? Ich bestelle ihn gleich beim Konditor nebenan.“

      „Nicht ganz so süß“, instruierte ihn Halil Agha.

      „Und du, Said? Was hättest du gerne?“

      „Ein Erdbeersorbet, Onkel David.“

      „Gut.“

      Dann schickte er seinen Gesellen los, und noch ehe er sich Halil Agha wieder zuwenden konnte, überfiel ihn Said mit dem Grund für ihren Besuch.

      „Na, dann hol dein Spiel doch mal heraus, und lass uns gleich anfangen.“

      Während Halil Agha in aller Ruhe seinen Kaffee schlürfte, ließ sich Said von David die Regeln und die Startaufstellung erklären. Dann legten sie los. Mit zunehmender Spieldauer gewann Said an Sicherheit, doch das Problem war, dass sie das Spiel jedes Mal, wenn Kundschaft in den Laden kam, unterbrechen mussten. Das blieb auch Halil Agha nicht verborgen.

      „So, Said, Zeit zu gehen. Onkel David muss seinen Geschäften nachgehen. Wir wollen ihn nicht zu lange aufhalten.“

      „Ist gut, Großvater. Aber lass uns doch bitte dieses eine Spiel zu Ende bringen.“

      „Komm doch einfach einmal am Abend zu uns nach Hause“, lud David Said ein, „dann passt es mir besser. Es wird mir eine Ehre sein.“

      Mersed flehte seine Tante an, noch zum Abendessen bleiben zu dürfen, als er Said die Treppe hochsteigen sah.

      „Na, du Fahnenflüchtiger, wo bist du die ganze Zeit gewesen? Lässt uns einfach hängen und bummelst in der Gegend herum…“

      Said erzählte es ihm, obwohl er sich insgeheim noch immer über Mersed und Betim ärgerte. Hatten sie ihn nicht ebenfalls hängenlassen, als sie ohne ihn auf den Feuerwehrturm gestiegen waren?

      Als Destegül die Suppenschüssel brachte und abstellte, fragte Mersed sie: „Bringst du mir etwas zu trinken, Schwesterherz?“

      Sie war seine Cousine, aber wenn er ehrlich sein sollte, mochte er sie viel mehr als seine Schwestern. Außerdem wusste er, dass es ihr schmeichelte, wenn er sie Schwesterherz nannte. Dann erfüllte sie ihm gern jeden Wunsch.

      Beim Essen fragte Ibrahim seinen Sohn neugierig nach seiner ersten Partie Schach mit David.

      „Es hat viel Spaß gemacht. Onkel David ist der Ansicht, dass Schach ein sehr geistreiches Spiel ist. Leider hatte er nicht viel Zeit und wir mussten mittendrin abbrechen, sonst hätte ich ihn bestimmt geschlagen“, strahlte er vor Glück.

      „Ein Brett und ein paar Holzfiguren - was soll daran denn geistreich sein?“,flüsterte Mersed Betim zu.

      „Vielleicht erklären ihm die Geister ja, wie er spielen soll“, gab Betim leise zurück, woraufhin sie in höhnisches Gelächter ausbrachen und erst verstummten, als Halil Agha ihnen einen mahnenden Blick zuwarf.

      An diesem Abend erzählte niemand eine Geschichte. Stattdessen schnitt Ibrahim ein Thema an, das ihm schon seit längerem Sorgen bereitete.

      „Die Stiftungen im Osmanischen Reich sind bekanntlich so etwas wie die Lungen unserer Gesellschaft, ohne die uns kaum Luft zum Atmen bliebe. Auch wir haben in unserem Viertel so eine Stiftung. Sie betreibt eure Schule und die Bibliothek nebenan, die Armenküche, das Krankenhaus und das Hamam. Das kann sie aber nur leisten, weil so viele Geschäftsleute unseres Viertels sie mit Zuwendungen unterstützen. Alle Gelder dieser Stiftung fließen gemeinnützigen Zwecken zu, nicht einmal der Sultan persönlich dürfte sie beschlagnahmen. Aber in letzter Zeit ist leider weniger Geld als früher gespendet worden, sodass die Einrichtungen gezwungen sind, an allen Ecken und Enden zu sparen. Einige Schüler bekommen schon seit zwei Monaten kein Stipendium mehr, und die Armenküche ist inzwischen fast ärmer als ihre Schützlinge.“

      „Und was schlägst du vor, dagegen zu unternehmen?“,unterbrach ihn sein Vater.

      „Wie ihr ja wisst, bin ich der Vorstand unserer Stiftung, und daher fühle ich michverpflichtet, die Familien unseres Viertels dazu aufzurufen, in Zukunft wieder mehr zu spenden und sich zudem auch wieder tatkräftiger zu engagieren. Unsere Frauen zum Beispiel könnten dabei helfen, Essen zu verteilen, das von anderen Freiwilligen gekocht wird. Das hat früher auch funktioniert. Und Freiwillige brauchen wir auch für die Betreuung unserer Kranken im Hospital und den dazugehörigen Genesungs- und Erholungsräumen. Es wäre schön, wenn da alle mit anpacken könnten.“

      „Ich bin dabei“, beteuerte Halil Agha.

      „Nadire und ich werden uns gleich morgen in der Armenküche melden. Tamar und Daphne helfen bestimmt auch gern“, schlug Afife vor.

      Und auch Said war sofort Feuer und Flamme. Allerdings riet ihm sein Vater, sich lieber zuerst um seine Schularbeiten zu kümmern.

      Kapitel 5

      Ein Jahr später hatten Ibrahims Vorschlag und die Bemühungen der Menschen im Viertel bereits reiche Früchte getragen. Die Stiftung war wieder aufgeblüht. Allein David, der reichste Geschäftsmann des Viertels, hatte beispielsweise so viel gespendet, dass von dem Geld ein Jahr lang täglich dreißig Bedürftige gespeist werden konnten. Auch die Staatskasse durfte sich freuen. Denn die Stiftungen entrichteten einen prozentualen Tribut auf ihre Einnahmen, der dann für außergewöhnliche Aufwendungen und Notzeiten angespart wurde. Anders als bei anderen Tributzahlungen an die Hohe Pforte wurden diese Gelder aber nicht von Steuereintreibern des Sultans eingesammelt. Die Aufgabe fiel den Leitern der Stiftungen zu, die dabei von Imamen beaufsichtigt wurden.

      Jeden Freitag priesen die Obst- und Gemüseverkäufer auf dem Marktplatz ihre Waren an. Gebäck- und Sorbetverkäufer drehten auf der Suche nach Kunden ihre Runden, manche Viertelbewohner verkauften zudem hausgemachte Leckereien. An diesem herrlichen Herbstmorgen zählten auch Ibrahim und sein Sohn zu den Besuchern der Stände, und während sie sich von der Menge treiben ließen, kamen immer wieder Menschen auf Ibrahim zu, die das Bedürfnis hatten, ihm für seine Verdienste um die Stiftung zu danken.

      Das erfüllte Said einerseits mit großem Stolz auf seinen Vater, andererseits erinnerte es ihn aber auch daran, dass er selbst noch nie einen Fuß in das Stiftungsgebäude gesetzt hatte; und das, obwohl er doch tagtäglich außer freitags gleich nebenan zur Schule ging, die ja ebenfalls zu der Stiftung gehörte. Das Gebäude war für Kinder tabu. Schon oft hatte Said seinen Vater um eine Führung gebeten, diesmal erbarmte er sich.

      „Gut, aber gedulde dich, bis Betim aus der Kirchenschule kommt. Dann nehmen wir ihn und auch Mersed mit.“

      Said stöhnte innerlich auf, als plötzlich schon wieder jemand hinter ihnen herrief.

      „Müderris, Müderris!“