Istanbul, 1766
Afife eilte zu ihrer Schwägerin Nadire, um die letzten Vorbereitungen abzuschließen. Ihr sechsjähriger Sohn Said wurde an diesem sonnigen Augusttag zusammen mit seinem gleichaltrigen Cousin Mersed eingeschult. Bei der traditionellen Zeremonie, für die beide Familien gemeinsam aufkamen, sollten sich die Gäste vergnügen. Die im Zenit stehende Sonne übergoss die Pflastersteine der Gassen mit feurigem Schein, und die Häuser in den engen Gassen spendeten den Passanten nur wenig Schatten.
Afife und die anderen Nachbarsfrauen versammelten sich bei Nadire und füllten Schultüten für die Kinder mit Süßigkeiten und Sesamringen. Währenddessen empfing Saids Vater Ibrahim die männlichen Gäste in der geräumigen Mittelhalle im Obergeschoss seines Konaks, einem dreistöckigen Herrenhaus in der Moschee-Gasse.
Seine achtjährige Tochter Destegül servierte ihnen Kaffee, und auch Merseds Vater, Ibrahims zwei Jahre jüngerer Bruder Adil Bey, der im Sultanspalast als Dolmetscher arbeitete, gesellte sich in ihren Kreis. Auf gemütlichen, mit Brokat bedeckten Diwanen unterhielten sie sich über die beiden Kinder. Angeführt wurde die Gästeschar von Salih Hodscha, dem Imam der Moschee am Marktplatz. Ihm oblag ab dem heutigen Tag die Verantwortung, den Jungen in den kommenden Jahren eine solide Grundbildung angedeihen zu lassen. Eine große Ehre.
Durch die offenen Fenster waren die Gesänge und Lieder der Kinder zu vernehmen, die draußen einen Festzug abhielten. Ausgelassen luden sie ihre Eltern dazu ein, doch endlich auch auf die Straße zu kommen. Salih Hodscha unterbrach seine Ausführungen und stieg, gefolgt von Ibrahim und Adil Bey, die Treppen des Konaks hinunter. Sie sperrten die Haustür auf und sahen zu, wie sich die Kinder ihnen langsam näherten.
Zur gleichen Zeit traten die verschleierten Frauen aus dem Konak von Adil Bey heraus und reihten sich auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse auf. Den Mittelpunkt des Festzugs bildeten Said und Mersed, die auf Pferden thronten. Flankiert von den anderen Kindern, winkten sie den Schaulustigen zu. Afife und Nadire verteilten die vorbereiteten Schultüten aus großen Körben an die Kinder, bis Salih Hodscha die Gesänge mit einem Handzeichen zum Schweigen brachte. An Said und Mersed gewandt, verkündete er:
„Meine Lieben, von Gesängen und Geschenken begleitet werdet ihr heute eingeschult. Damit beginnt für euch ein neuer Lebensabschnitt. Möge Gott euch die Kraft und den Willen geben, fleißige und erfolgreiche Menschen zu werden. Euren Eltern und all denen, die tatkräftig zum Gelingen dieses Festtages beigetragen haben, möchte ich meinen Dank aussprechen. Gehen wir nun in die Moschee, um gemeinsam einige erste Worte zu lesen. Eure Mitschüler werden eure Koranpulte und Sitzkissen dorthin tragen.“
Mit Hilfe ihrer Väter saßen Said und Mersed von ihren Pferden ab und folgten Salih Hodscha zur Ali-Efendi-Moschee. Sie war die erste Moschee an diesem Ufer des Goldenen Hornes, die nach der Eroberung der Stadt durch die Osmanen eingeweiht worden war. Aus diesem Grunde zierte ihr Eingangsportal ein Schild mit der Zahl 1453. Stifter der Moschee war Ali Efendi gewesen, der Gebetsrufer von Sultan Mehmed dem Eroberer.
Er hatte die kleine Moschee mit einem Minarett, einem Brunnen und einem Stiftungsgebäude nebenan bauen lassen, nachdem ihm das Gelände vom Sultan zugesprochen worden war. Die Wände des großzügigen Gebetsraums der Ali-Efendi-Moschee waren mit blauen Fayencen aus Iznik ausgekleidet, und die Holzdecke war mit feinen Gravuren verziert. Anders als viele andere Moscheen spannte sich hier jedoch keine Kuppel über die Köpfe der Gläubigen. Nach dem Lehrer und den beiden Jungen ließen sich auch einige Männer und viele weitere Kinder im Gebetsraum nieder und bildeten einen großen Sitzkreis.
Salih Hodscha setzte sich in die Gebetsnische aus Marmor, ließ die Pulte vor seinen beiden neuen Schülern aufstellen und forderte sie auf, Platz zu nehmen. Also setzten sich die Jungen auf die Sitzkissen und hörten ihrem zukünftigen Lehrer gespannt zu. Salih Hodscha bat sie zu wiederholen, was er sagte, und begann mit der arabischen Anrufungsformel, der Basmala. Die Kinder sprachen sie ihm nach.
Dann hielt Salih Hodscha eine kurze Predigt in ruhigem, väterlichem Tonfall und beendete sie mit einem Segensspruch. Zum Abschluss küssten die beiden Jungen seine rechte Hand. Zusammen mit den anderen Kindern verließen sie die Moschee wieder und strömten nach draußen auf den Marktplatz.
Auf dem von der Moschee, dem Stiftungsgebäude, einem Kaffehaus und verschiedenen Läden umsäumten Marktplatz trafen sich die Bewohner des Viertels tagtäglich, in guten wie in schlechten Zeiten. Mitten auf dem Platz ragten drei große Platanen in den Himmel, die an Markttagen und bei Festen reichlich Schatten spendeten. An Tagen wie diesem pflegten die Ladenbesitzer ihre Fensterfronten und den ganzen Platz großzügig zu schmücken. Sie und die anderen festlich gekleideten Anwesenden konnten es kaum erwarten, Said und Mersed zu gratulieren.
Gegenüber vom Eingang der Moschee befand sich das Kaffehaus von Sami, der vor seiner Stube ein Podest aus Holz mit einer geschnitzten Sitzfläche errichtet hatte, von dem aus die Jungen das bunte Treiben bestaunen konnten. Die humorvollen Erzählungen und schelmischen Vorträge der Geschichtenerzähler, der Meddahs, die die unterschiedlichsten Menschentypen karikierten, fehlten an solchen Festtagen ebenso wenig wie ein Schattentheater, das Karagöz.
Said und Mersed lachten über die Scherze und die Mimik des Meddah, obwohl sie die sozialkritischen Anspielungen nur zum Teil verstanden, und applaudierten ihnen nicht weniger enthusiastisch als der Rest des Publikums.
Schnell entdeckte Said seine Mutter und seine Schwester, die mit Nadire und ihrer Tochter Dilruba auf Schemeln vor dem Stiftungsgebäude neben der Moschee hockten. Sie unterhielten sich angeregt und teilten ihre Freude. Dilruba, Merseds kleine Schwester, war erst drei Jahre alt, von sonnigem Gemüt und äußerst redselig. Said hatte sofort den Eindruck, als würde sie auch dieses Gespräch zwischen den Müttern dominieren und den Ton angeben.
„Sie ist unsere kleine, süße Hexe. Bei uns tanzt in letzter Zeit alles nach ihrer Pfeife“, sagte Mersed. Said antwortete ihm mit einem Lächeln und wandte sich wieder den Aufführungen zu.
Als die Darbietungen gegen Abend endeten, gingen Ibrahim und Adil Bey zu Said und Mersed, übergaben ihnen zwei Akçe-Silbermünzen und beglückwünschten beide zu dem heutigen Tag. Die Nachbarn taten es ihnen nach, und in kürzester Zeit wimmelte es vor dem hölzernen Podest von Menschen.
Unterdessen hatten sich zwei bewaffnete Unteroffiziere des Janitscharenkorps, Tschausch genannt, unter die Menschenmenge gemischt. Said erkannte sie an ihren kegelförmigen Filzkappen, den roten Gewändern und gelben Stiefeln. An Markttagen patrouillierten hier Ordnungshüter, um Streitigkeiten beizulegen. Aber an Festtagen war es ungewöhnlich, Janitscharen zu sehen. Zudem wirkten sie nicht unbedingt freundlich. Said gab Mersed einen Stups mit dem Ellbogen und deutete auf die beiden Soldaten. Auch Mersed beschlich ein ungutes Gefühl.
Und tatsächlich: Unversehens zog einer der beiden sein Jatagan-Schwert aus der Scheide an seinem Gürtel und reckte es unter lautem Gebrüll in die Höhe. Man merkte ihm an, dass er betrunken und offensichtlich nur hier war, um Ärger zu stiften. Said konnte es sich nicht erklären. Wieso sollte sich ein Ordnungshüter an einem friedlichen Tag unter friedliche Menschen mischen und die Ordnung stören? Der Sultan konnte diese Soldaten doch wohl kaum damit beauftragt haben, seine Untertanen zu töten.
Während sich die Feiernden damit begnügten, den beiden feindselige Blicke zuzuwerfen, sah sich Ibrahim zum Handeln gezwungen. Er stürzte auf den krakeelenden Soldaten zu und versuchte die Hand zu fassen zu bekommen, mit der er sein Schwert hielt. Doch der andere trat dazwischen und versetzte ihm einen Hieb gegen die Brust. Ibrahim taumelte rückwärts und fiel auf den Rücken.
Afife stieß einen entrüsteten Schrei heraus und wollte sich einen Weg durch die Menge bahnen, um ihrem Mann Beistand zu leisten. Nadire konnte ihre Schwägerin nur mit größter Anstrengung zurückhalten. Die übrigen Versammelten hingegen ließen ihrem Zorn freien Lauf. Äußerst aufgebracht über diesen Vorfall, wären sie auf die beiden losgegangen, wenn nicht in letzter Sekunde Halil Agha, Saids Großvater, eingegriffen hätte.
Der Janitscharen-Agha im Ruhestand drückte die Menge zur Seite und packte die beiden Unruhestifter am Kragen. Obwohl er die Sechzig schon lange überschritten hatte, besaß er noch immer einen durchtrainierten Körper. Außerdem hatte er kraft