Seit den frühen Morgenstunden herrschte im Topkapi-Palast hektisches Treiben. Alles deutete darauf hin, dass der Sultan am heutigen Tage einer hochrangigen Persönlichkeit eine Audienz gewähren würde. Der frühherbstlichen Kühle zum Trotz erhitzte das aufgeregte Hin und Her die Gemüter des Oberhofmeisters und der Hofdiener, die seinem Befehl unterstanden. Der Thronsaal, der nur für die Empfänge höchster Staatsbeamter geöffnet wurde, musste hergerichtet und dem besonderen Anlass entsprechend geschmückt werden.
Erwartet wurde ein Mann, der in den vergangenen Monaten immer mehr Einfluss auf die Geschicke des Reiches genommen hatte und irgendwann so mächtig geworden war, dass der Sultan seine Autorität zähneknirschend anerkennen musste. Er hatte begonnen, Forderungen zu stellen: hohe Posten im Osmanischen Reich für sich selbst und seine Getreuen, eine angemessene Entlohnung und zahlreiche Sonderrechte. Und er hatte darauf gedrängt, im Sultanspalast empfangen zu werden. Dem Sultan war keine andere Wahl geblieben, als seinem Wunsch stattzugeben. In Absprache mit einigen wenigen vertrauenswürdigen Wesiren hatte er den anmaßenden Emporkömmling und zwei seiner Weggefährten zu einer Unterredung eingeladen.
In dem offiziellen Einladungsschreiben hatte der Sultan ihnen reicheren Lohn in Aussicht gestellt, als sie je zu hoffen gewagt hätten: dem Emporkömmling selbst die Ernennung zum Oberbefehlshaber der Seestreitkräfte, und seinen beiden Mitstreitern die Ämter des Gospodars von Moldawien und des Janitscharen-Aghas. Kein Wunder also, dass sie die Einladung des Regenten liebend gern angenommen hatten.
Als der umschmeichelte Gast eintraf und sah, in welch prunkvollem Gewand sich der Palast präsentierte, lösten sich seine letzten Zweifel in Luft auf. Voller Vorfreude und Zuversicht ließ er alle Vorsicht fahren und befahl den Wächtern, ihn und seine beiden Begleiter unverzüglich zum Thronsaal zu bringen.
Dort angekommen, teilte man ihnen jedoch mit, dass der Sultan seine Pläne kurzfristig geändert habe. Plötzlich hieß es, dass er sie doch nicht im Diwan in Anwesenheit der Wesire empfangen werde, sondern in einem viel kleineren Raum, nämlich in dem überaus bescheidenen, etwas abseits gelegenen Beschneidungssaal.
Das hatte sich der Gast anders vorgestellt. Unter Protest und wütenden Verwünschungen folgte er den Hofbeamten zu dem Saal. Und dort platzte ihm dann endgültig der Kragen. Zwei Leibwächter des Sultans wagten es tatsächlich, seinen beiden Begleitern den Zutritt zu verwehren. Erbost fuhr er sie an:
„Ich bin nicht gekommen, um mich vom Fußvolk des Sultans herumkommandieren zu lassen. Erst verweigert man mir einen angemessen Auftritt vor der Ratsversammlung, und jetzt hindert man meine Begleiter daran, diesen gottverdammten Beschneidungsraum zu betreten. Ich verlange sofort eine Erklärung!“
„Euer Ehren“, setzte einer der Leibwächter mit fast unhörbarer Stimme an, „niemand hegt die Absicht, Euch zu verärgern. Aber wir haben die Anweisung vom Großwesir, Euch einzeln hineinzubitten, damit der Sultan Euch der Reihe nach Eurem jeweiligen Rang entsprechend empfangen kann.“
Unbeeindruckt von diesem törichten Geschwätz pochte der Gast auf eine würdigere Behandlung und begann, den Leibwächtern zu drohen. Schließlich gelang es seinen Begleitern, ihn ein wenig zu beruhigen. Sie versicherten ihm, dass es ihnen nichts ausmache, im Korridor auf ihn zu warten, und so stürmte er zornentbrannt, einen Wortschwall von Verwünschungen ausstoßend allein in den Saal.
Verwundert registrierte er, dass ihn in dem Raum nichts als gähnende Leere erwartete. Ohne lange zu überlegen, rief er nach dem Sultan:
„Verschont mich mit Euren Scherzen, Eminenz. Wenn Ihr beabsichtigt, Katz und Maus zu spielen, seid Ihr bei mir an der falschen Adresse. Ich verlange, auf der Stelle von Euch empfangen zu werden. Übergebt mir mein neues Amt, wie Ihr es versprochen habt!“
Doch anstelle des Sultans trat plötzlich ein Offizier hinter dem Vorhang hervor, der den Saal von einer Kammer trennte, und zog einen aus Damaszener Stahl gefertigten Säbel aus der Scheide.
Abschätzig und mit Verachtung in der Stimme fragte der Gast ihn:
„Wer bist du? Und wo ist der Sultan?“
„Nicht der Sultan, sondern dein Todesengel ist gekommen, Frevler.“
„In welchem Ton redest du hier mit mir, du Unwürdiger?“
Plötzlich fiel dem Gast ein, wen er da vor sich hatte: einen Offizier, der ihm in letzter Zeit schon häufiger Steine in den Weg gelegt hatte. Er musste wohl oder übel mit diesem Bastard fertig werden. Also zog auch er sein Jatagan-Schwert und streckte es seinem Widersacher entgegen.
Sie kämpften, bis ihre Kräfte nachließen, dann verschnauften sie kurz. Anschließend setzte der Offizier einen weiteren Hieb, der zunächst abgewehrt wurde. Kurz darauf jedoch fand er eine Lücke in der Abwehr seines Gegners. Ehe dieser noch reagieren konnte, riss der Offizier seinen Säbel nach oben, ließ ihn mit aller Kraft niederfahren und schlug dem Gast so den rechten Unterarm ab.
Der Arm des Getroffenen flog mitsamt seinem Schwert unkontrolliert durch den Raum und fiel mit lautem Scheppern zu Boden. Entsetzt griff er sich mit der linken Hand an den Stumpf seines rechten Oberarms. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, und sein Schrei erfüllte den Raum, bevor er den Offizier stammelnd anflehte, innezuhalten.
„Winsele nicht um Gnade, du Bastard!“, ignorierte der Offizier sein Flehen und wies mit dem Säbel auf die rote Lache, die inzwischen den Perserteppich tränkte. „Mögest du in diesem Blutbad verrecken. Nenn mir einen Grund, warum ich dir verzeihen sollte! Nur einen einzigen Grund!“
„Zumindest einen Grund kann ich vorbringen, mein Offizier“, stotterte der Gast nun auf Knien. „Ich habe den Großwesir getötet und das Volk dadurch von seiner Schreckensregierung befreit. Ist das nicht Grund genug, mir zu verzeihen?“
„Der Großwesir ist einer Intrige zum Opfer gefallen und konnte dem Druck nicht mehr standhalten. Um das Volk nicht länger zu spalten, nahm er seinen Hut. Anschließend hast du ihn bestialisch ermordet. Wenn du das eine Wohltat nennst, will ich dir eine nennen, die die deine hundertfach übertrifft: Ich werde die Welt von dir befreien.“ Er holte weit aus, wirbelte mit dem Säbel durch die Luft und trennte den Kopf des Gastes vom Rumpf. Aller Lebensgeister beraubt, sackte dessen Körper schlaff zu Boden.
Der verzweifelte letzte Schrei des Gastes drang bis auf den Korridor hinaus und blieb auch seinen beiden Begleitern nicht verborgen. In ohnmächtiger Wut stürmten sie in den Saal, ohne dass die Leibwächter es hätten verhindern können. Als sie den abgeschlagenen Kopf ihres Anführers und seine blutüberströmte Leiche entdeckten, erstarrten sie einen Moment lang. Dann zückten sie ihre Schwerter, um sich an seinem Mörder zu rächen.
Sekunden später fiel von hinten ein Schatten auf die beiden. Instinktiv drehten sie sich um und sahen dem Kommandanten der königlichen Schutztruppe in die Augen. Der Offizier nahm sich den einen von ihnen vor, der Kommandant den anderen, und gemeinsam bereiteten sie ihnen ein ähnliches Ende, wie auch ihrem Freund beschieden war.
Als der Offizier und der Kommandant zum Sultan eilten, um ihm von der Beförderung des Gastes und seiner Begleiter ins Jenseits zu berichten, ließen sie drei Leichen, drei Köpfe und einen Arm, der sich noch immer an einem Schwert festkrallte, auf dem Fußboden des Beschneidungsraumes zurück. Sodann zeichnete der Sultan beide mit hohen Rängen aus und ernannte den Offizier zum neuen Oberhaupt des Janitscharenkorps, dem Janitscharen-Agha, bevor er sie zu einem Abendessen in den Rewan-Pavillon einlud.
Während die Pagen den Geladenen das reichhaltige Mahl servierten, erhob sich der Herrscher von seinem Platz, ging zum Fenster des Pavillons hinüber und ließ seinen Blick über die Meerenge des Bosporus schweifen. Was hat diese Stadt in den letzten Monaten alles erdulden müssen?, dachte er bei sich. Und was wäre wohl erst aus ihr geworden, wenn es den nun toten Männern tatsächlich gelungen wäre, die Macht an sich zu reißen? Mit ihrer Hinrichtung hatte er ein klares Zeichen gesetzt und seine Macht gestärkt. Seinen Gästen noch immer den Rücken zuwendend, reckte er seine Hände in die Höhe, holte tief Luft und bedankte sich bei Gott und den beiden Getreuen, die seinen Plan in die Tat umgesetzt hatten.
„Endlich“, seufzte er erleichtert.