5: STADTAUTOBAHN, DONNERSTAG, 30.07.2013, 22:00 UHR
Martina konnte es langsam nicht mehr hören: Michael stöhnte und fauchte im Kofferraum – ununterbrochen. Sie hoffte nicht mehr, dass er irgendwann damit aufhören würde. Als er aufgewacht war und sie die ersten Geräusche hörte, hatte sie angehalten, um nach ihm zu sehen. Martina war auf den Anblick vorbereitet, wusste vom Fabrikzaun, was sie erwartete. Dachte sie. Diesen hier hatte sie mal gekannt. Gut gekannt. Mittwochs hatten sie immer gemeinsam Billard gespielt, zusammen mit seiner Frau. Sie musste es ihr sagen. Wenn sie noch lebt.
Als sie die Haube öffnete und Michael ihr entgegen stöhnte, wusste sie gleich, dass er nicht mehr ansprechbar war. Die Infektion war schnell fortgeschritten, Michael sah aus wie die Leute hinter dem Fabrikzaun ausgesehen hatten. Sie hatte keine Angst, denn Michaels Fesseln ließen ihm so gut wie keine Bewegungsfreiheit und bei einem Zusammenstoß würde der Sack über seinem Kopf sie vor Bissen schützen. Durch den Sack sah er sie wahrscheinlich nicht einmal richtig. Trotzdem wurde er zusehends unruhiger, je länger Martina am offenen Kofferraum stand. Er spürte sie, roch ihr Fleisch, das Blut in ihren Adern, spürte ihr Lebendig-sein. Sie schlug die Klappe zu und fuhr weiter. Wenn sie erst die Polizeiwache erreicht hatte, würde man Michael schon irgendwie helfen können.
Die Stadt war gespenstisch. Die Häuser dunkel, die Straßen verlassen. Geflohen oder versteckt? Wenigstens kam sie gut voran.
Plötzlich sah sie vor sich ein Flackern. Es kam aus einem Haus vor ihr. Im Vorbeifahren sah sie, dass das Licht in einem Zimmer im ersten Stock an und aus ging. Wahrscheinlich ein Wackelkontakt. Im Rückspiegel wirkte das Blinklicht noch seltsamer, irgendwie rhythmisch. Erst blitzte das Licht dreimal schnell hintereinander auf, dann folgten drei langsamere Lichter, dann wieder drei kurze. Das ist kein Wackelkontakt, sondern ein SOS Signal. Martina überlegte kurz: Wie viele hilfebedürftige Menschen gab es im Moment wohl in der Stadt? Konnte sie von der Polizeiwache aus nicht besser helfen?
„Ach, verflucht“, murmelte sie, bremste so abrupt ab, dass Michael gegen die Rückbank knallte und wendete den Wagen. Sie verließ die Stadtautobahn, parkte vor dem Haus und stieg aus.
„Hallo? Jemand da?“, flüsterte sie dem Licht entgegen.
Das Gesicht eines Mädchens erschien am Fenster, kurz darauf auch das eines älteren Jungen.
„Habt Ihr SOS geblinkt?“
„HILFE“; schrie der Junge.
„Immer ruhig, wir kriegen das schon hin – ich komme zu Euch rein.“
„NEIN!“
„Nein? Ich dachte Ihr wollt meine Hilfe?!“
„Da sind Zombies im Haus“, brüllte der Junge, „ ... Infizierte meine ich.“
Martina wusste, was ein Zombie war und sie wusste auch, was ein Infizierter war. Wo der Junge den Unterschied sah, wusste sie nicht.
„Wo sind Eure Eltern?“
Das Mädchen quiekte und fing an zu weinen. Sie verließ das Fenster und Martina hörte sie im Inneren des Zimmers schluchzen. Falsche Frage. Sie sah wieder den Jungen an.
„Diese Infizierten – wo sind die genau?“
„Vor unserer Tür. Wir sind im Bad.“
„Ich bin gleich wieder da.“ Martina ging auf das Haus zu. Die Eingangstür stand offen, mit zerbrochenem Schloss. Vor ihr lag eine Diele, rechts ein paar verschlossene Türen, links blickte man ins Wohnzimmer, wo ein Fernseher ein schwarz-weißes Rauschbild zeigte. Geradeaus befand sich eine Treppe. Davor lag ein Mann, auf den unteren Stufen und dem Boden glitzerte eine große Blutlache. Martina hatte genug Tatorte gesehen, um zu wissen, was hier passiert war. Der Mann war angegriffen worden und gestürzt. Dabei hatte er sich den Schädel an der Treppe eingeschlagen. Sie befürchtete, dass es sich um den Vater der Kinder handelte. Die Treppe hinauf führte eine Blutspur. Der oder die Angreifer hatten ihren Weg nach dem Kampf nach oben fortgesetzt. Martina schlich leise ebenfalls die Treppe hinauf. Von oben drang das ihr schon von Michael bekannte Stöhnen und Fauchen. Sie bewegte sich auf Zehenspitzen bis zum Treppenabsatz und sah um die Ecke in einen Flur. Da waren mehrere Türen, vor einer lungerten drei Infizierte herum, zwei Männer und eine Frau. Ihre Mutter!?! Sie schnüffelten und fummelten an der Tür, konnten sie aber anscheinend nicht öffnen. Martina prägte sich die Szene ein und beeilte sich, um möglichst leise wieder draußen unter das Fenster zu kommen.
Der Junge wartete schon auf sie. „Sie sind noch da, oder?“
„Ja, sind sie, aber keine Sorge – ich habe einen Plan. Zuerst hol bitte deine Schwester zurück.“
Der Junge verschwand und kurz darauf erschienen wieder zwei Köpfe im Fenster.
„Also wir machen das so: Ich lenke sie ab und locke sie aus dem Haus. Wenn Ihr seht, dass wir draußen sind, lauft Ihr zu meinem Auto dort, steigt ein und schließt die Türen. Wartet auf mich, bis ich zurückkomme.“
Die Kinder sahen sich an.
„Ok?“
„Ok!“, rief der Junge.
„Wie heißt Ihr?“
„Ferdinand“, er deutete auf das Mädchen, „und das ist Lea, meine Schwester.“
„Ich bin Martina. Also gut Ferdinand und Lea, es geht los!“
Martina ging wieder ins Haus und diesmal gab es keinen Grund leise zu sein. Sie stieg die Treppe hoch und stellte sich oben mitten in den Flur.
„Hey! HEY IHR!“
Die Infizierten ließen von der Tür ab, wussten aber wohl nicht so recht, ob sie die neue Mahlzeit sofort wollten oder lieber erst zum Nachtisch.
„Kommt schon, an mir ist viel mehr dran“, lockte Martina. „Guckt her, genug für euch alle.“ Sie streckte ihnen ihre Hüften entgegen, von denen sie schon immer fand, dass sie der Leckerbissen ihres Körpers seien, und wackelte mit dem Po. Das schien die Infizierten zu überzeugen, dass sie lecker schmecken würde. Zwei von ihnen kamen jetzt auf sie zu. Der dritte kratzte wie in Trance am Türrahmen. Unter ihm lagen eine Menge Holzsplitter. Einer Eingebung folgend zog sie ihre Dienstwaffe und schoss ihm ins Bein. Das war zwar normalerweise eine Methode, um Gegner am Angriff zu hindern, dies hier war aber nicht normal und so wurde der Infizierte aus seiner Trance gerissen und kam nun auch auf sie zu.
Angesichts von drei Infizierten, die sich zwar humpelnd und stolpernd aber doch stetig näherten, trat Martina lieber den geordneten Rückzug an. Selbstverständlich nicht ohne eine Menge Krach und Gebrüll, um ihre drei Verehrer auf Kurs zu halten. Brav folgten sie ihr die Treppe herunter und aus dem Haus. Im Vorgarten blieb sie stehen und sah zum Fenster. Die Kinder guckten zurück. Sie wartete ein paar Atemzüge, dann hatten die Infizierten den Eingang passiert, und kamen den Weg entlang.
„JETZT!“, schrie sie den Kindern zu, wandte sich zur Straße und rannte an ihrem Auto vorbei, sich ständig vergewissernd, dass sie noch immer verfolgt wurde. Ein Stück die Straße hoch hatte sie vorhin im Vorbeifahren eine U-Bahn Haltestelle gesehen. Der Plan sah vor, durch einen Eingang hinein zu laufen, unter der Straße die Infizierten abzuhängen und auf der anderen Seite wieder raus zu kommen. Sie erreichte den Tunneleingang, die Infizierten zehn, fünfzehn Meter hinter sich. Sie nahm die ersten paar Stufen und wartete. Auf der Treppe würden die Infizierten mit ihrem Stolper-Torkel-Mix Probleme haben und es war wichtig, dass sie Martina weiter verfolgten.
Der Tunnel lag vollkommen dunkel unter ihr. Sie nahm ihre Taschenlampe vom Gürtel und ließ den Lichtkegel die Treppe herunter wandern. Sie sah nichts außer Stufen, die in die Dunkelheit hinab führten. Langsam drang sie weiter vor. Stufe für Stufe für Stufe. Sie erreichte das Treppenende und leuchtete in den Tunnel. Da ist jemand, schoss es ihr durch den Kopf. Das Licht der Taschenlampe wurde von einem Augenpaar reflektiert. Dann noch eines und noch eines und noch