„Wenn es sein muss“, sagte er.
Die Geschwister putzten sich die Zähne und Lea legte sich in ihr Bett. Ferdinand setzte sich neben sie, nahm „Alice im Wunderland“ vom Nachttisch und begann zu lesen. Für ihre 9 Jahre war Lea eine sehr ausdauernde Zuhörerin. Von unten hörten sie Mama in der Küche hantieren. Wahrscheinlich füllte sie wieder irgendein Nahrungsmittel in Marmeladen- und Einmachgläser um. Auch das war eine ihrer neuen Beschäftigungen. Ständig füllte sie Gläser mit Zeug, trug sie in den Keller und stapelte sie sorgsam in den Regalen dort, die sich langsam immer weiter unter dem Gewicht durchbogen.
Auch Papa hatte viel zu tun. Er hatte begonnen, das ganze Grundstück mit einem hohen Lattenzaun zu umzäunen. Mehr als die Hälfte war bereits fertig.
Da seine Eltern so beschäftigt waren, hatte Ferdinand es sich zur Aufgabe gemacht, seine Schwester zu unterhalten. Sie sollte sich keine Sorgen machen, obwohl alle sich so seltsam verhielten. Also musste Ferdinand sie so gut es ging ablenken, damit sie ja nicht auf die Idee kam, Angst haben zu müssen. Seine kleine Schwester sollte niemals in ihrem Leben Angst haben müssen.
Ferdinand las und las. Irgendwann fielen ihm die Augen zu und das Buch klappte zusammen. Lea nahm es ihm vom Bauch und legte es auf den Nachttisch. Sie zog ihr Tagebuch aus der Schublade und schrieb einen Eintrag. Dann versteckte sie das Buch wieder, kuschelte sich an ihren Bruder und schlief mit einem zufriedenen Seufzer auf den Lippen ein. Den Gute-Nacht-Kuss, den Mama und Papa ihren Kindern noch brachten, bekamen die beiden schon nicht mehr mit.
LEAS TAGEBUCH
Ohne Schule ist das Leben schön. Ferdinand und ich durften nun schon den dritten Tag zu Hause bleiben. Das einzig Doofe ist, dass wir nicht raus dürfen und Mama und Papa mit uns keine Ausflüge machen wie sonst in den Ferien. Aber es sind ja auch keine richtigen Ferien, sonst würden wir sicher an die Nordsee fahren.
Ich darf auch meine Freunde nicht sehen. Susi hat mich heute angerufen, aber ihre Eltern lassen sie auch nicht mit anderen spielen. Immerhin habe ich Ferdinand. Susi hat keinen Bruder.
Langsam haben wir schon Langeweile. Auf Brettspiele hat Ferdinand keine Lust mehr, weil ich immer gewinne, Malen findet Ferdinand auch doof. Am schlimmsten langweile ich mich, wenn er an seinem Computer spielt. Bei Ferdinands Spielen muss man immer nur Monster abschießen und sowas und Mama sagt, ich darf dabei nicht zugucken.
Heute haben wir aber im Haus Verstecken gespielt. Ferdinand wollte, dass ich mich so gut irgendwo verstecke, dass er mich nicht findet. Ich habe mich im Bad unter die Sachen im Wäschekorb gelegt. Ferdinand hat sehr lange suchen müssen. Er sagt es sei wichtig, dass ich weiß wo ich mich verstecken kann. Aber hier sucht mich doch niemand außer ihm.
Mama und Papa gucken die ganze Zeit Nachrichten. Ich finde Nachrichten langweilig, aber sie sagen, die Kindersachen werden nicht mehr gezeigt. In den Nachrichten geht es immer um so eine Krankheit. Ich hoffe, ich stecke mich nicht an. Dann muss ich wieder zu Dr. Strahl und der tut mir immer weh, obwohl er jedes Mal wieder verspricht, dass es nicht wehtun wird.
Ferdinand meint, uns kann nichts passieren, wenn Mama und Papa das sagen. Ich glaube ihnen aber nicht so einfach. Wenn sie sich so komisch angucken, sind sie fast so wie Dr. Strahl, wenn er sagt „es tut nicht weh“. Und alle haben Angst. Heute war Herr Foster hier. Er und mein Vater wollen den Zaun an unseren Häusern besser machen. Herr Foster ist wie ein großer starker Bär und macht mir immer die Haare wuschelig. Heute wollte er aber nur mit Papa reden und war ganz zappelig. Er lief immer in der Küche vor Papa herum. Ich soll immer still am Tisch sitzen. Bestimmt muss Herr Foster auch sein Gemüse nicht essen.
Ich hasse es, dass Mama mich immer zwingt das eklige Gemüse zu essen. Das ist so glibberig. Ich wünschte, es würde eine Welt geben, in der es egal ist, ob Kinder ihr Gemüse essen.
Sie konnten noch nicht lange geschlafen haben, als Ferdinand durch ein Geräusch geweckt wurde. Er horchte. Es kam von unten. Jemand war an der Tür.
Schritte! Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe.
„Wer ist da?“ hörte er Papa rufen.
Keine Antwort. Er lauschte so fest er konnte. Nichts. Dann hämmerte etwas dumpf gegen die Haustür. Ein lautes Stöhnen ertönte und er sah zu seiner Schwester hinüber.
Lea saß kerzengerader im Bett und starrte ihn entsetzt an.
„Was ist das?“ flüsterte sie.
Schnelle Schritte näherten sich. Ferdinands Herz klopfte wie wild. Dann wurde die Tür aufgerissen und Papa stand im Türrahmen.
„INS BAD!“, schrie er.
Wie von der Tarantel gebissen sprangen die Kinder aus den Betten und rannten ins Bad.
Sie sahen Mama, wie sie mit einem großen Fleischmesser zur Haustür eilte. Papa schubste sie weiter, knallte die Tür hinter ihnen zu und kommandierte „ABSCHLIESSEN!“
Ferdinand gehorchte. Er schloss von innen ab, sie setzten sich auf den Boden und nahmen sich zitternd in die Arme.
Sie hörten, wie Papa wieder nach unten ging und irgendwas zu Mama sagte. Danach war es einige Sekunden lang still und dann brach die Hölle los: Mama schrie, Papa fluchte. Sie hörten lautes Krachen, Möbel wurden umgestoßen, jemand fiel zu Boden. Mama schrie noch einmal laut auf. Ein gequälter Schrei, den Ferdinand niemals wieder vergessen würde.
Die Geschwister starrten sich entsetzt an. Einige Momente vergingen in völliger Stille, dann sagte Ferdinand:
„Ich gehe nachsehen.“
„Aber Papa hat gesagt, wir sollen hier bleiben.“
„Ich gucke nur von der Treppe, du bleibst hier und lässt mich wieder rein.“
Lea sah in diesem Moment unglaublich klein und verängstigt aus. Normalerweise hätte Ferdinand sie nun zu beruhigen versucht, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Also nickte er nur und wandte sich zur Tür.
Er schloss die Tür hinter sich wieder und sah den Gang hinab. Nichts zu sehen. Auf Zehenspitzen schob er sich weiter vor, immer an der Wand entlang. Sein Herz und seine Atmung kamen ihm wahnsinnig laut vor. Noch ein paar Meter und er würde den Treppenabsatz erreicht haben und in die untere Etage gucken können. Und da waren Geräusche. Er konnte sie nicht einordnen und sie waren nur leise, aber sie waren auf jeden Fall da.
Langsam schob er sich weiter vor. Eine Ewigkeit verging, bis er das Ende der Wand erreicht hatte und um die Ecke sehen konnte. Unten vor der Treppe lagen seine Eltern. Seine Mutter lag auf dem Rücken, sein Vater bäuchlings auf ihren Beinen, einen Baseballschläger in der Hand. Ferdinand wusste sofort, dass sie tot waren. An Mamas rechtem Arm nagte ein Infizierter, an Papas Beinen machte sich ein weiterer zu schaffen. Sie sahen genauso aus wie auf dem Bild, das Ferdinand im Fernsehen gesehen hatte. Man hatte ein paar Kennzeichen aufgezählt, an denen man Infizierte erkennt, Ferdinand hätte diese Informationen aber gar nicht benötigt. Die Wesen am Treppenabsatz waren so bizarr und furchteinflößend, dass jeder sofort an den nahenden Tod denken musste.
Im Fernsehen hatten sie auch gesagt, man solle beim Anblick von Infizierten sofort die Flucht ergreifen. Aber Ferdinand konnte sich nicht rühren. Er starrte auf seine Eltern, die immer weniger wurden, während die beiden Infizierten ihren Hunger stillten. Er hätte wohl noch bis zum Ende der Mahlzeit dort gestanden, wenn nicht plötzlich Bewegung in die Tafelrunde gekommen wäre: Mama regte sich noch. Ferdinand wagte sich einen Schritt weiter. Tatsächlich, Mama bäumte sich auf, stöhnte laut und schüttelte den Infizierten von ihrem Arm.
„MAMA!“, schrie Ferdinand.
Sie drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich und Ferdinands Hoffnung verflog sofort wieder – seine Mutter hatte sich infiziert. Ferdinand konnte es in ihren Augen sehen.
„Mama? Ich bin‘s?“, versuchte er.
Ihre Augen blieben vollkommen leer. Keine Spur von Erkennen. Keinerlei Regung.