Die Kinder standen daneben auf dem Bürgersteig.
„Seid ihr verrückt?“, rief sie im Rennen, „ich sagte IM AUTO warten.“
„Da ist jemand drin“, brüllte der Junge zurück.
Michael! Martina erreichte den Wagen. „Dafür ist jetzt keine Zeit, rein mit euch.“
Sie öffnete die hintere Tür und drängte die Kinder auf die Rückbank, wirbelte ums Auto, nahm hinterm Steuer Platz und raste los.
Ihr Herz hämmerte auch nach ein paar Kilometern zielloser Flucht noch wie wild. Martina sorgte sich, einen Unfall zu bauen, wenn sie sich nicht bald beruhigte. Michael machte die Sache nicht besser, indem er im Kofferraum stöhnte. Die Kinder hielten sich an den Händen und sprachen kein Wort.
„Keine Angst, Ihr beiden. Ihr seid jetzt sicher. Ich bringe Euch zu Polizeiwache, ok?“, erklärte sie.
Im Rückspiegel sah sie Ferdinand nicken.
„Das im Kofferraum ist mein Kollege Michael. Er ist krank geworden, kann Euch aber nichts tun.“
„Wo sind unsere Eltern?“, fragte Ferdinand.
„Ich habe sie weggelockt und in der U-Bahn abgeschüttelt. Die kommen schon zurecht.“ Das war gelogen, aber was sollte sie sagen? Die liegen ohne Köpfe auf der U-Bahn Treppe?
„Sie sind auch krank, oder?“
Martina zögerte. „Ja – sind sie. Aber bestimmt finden die Ärzte bald heraus, wie man alle Kranken retten kann.“ Und die nächste Lüge.
Ferdinand sah aus dem Fenster.
„Da war jemand – an der Tür“, begann er stockend, „ ... Papa hat uns ins Bad geschickt. Ich bin nachsehen gegangen und da waren …“ Er sah zu seiner Schwester und brach ab. „Wurden sie krank, weil sie gebissen wurden?“
Ihre Augen trafen sich im Rückspiegel. „Ja, ich denke schon“, antwortete Martina. Zur Abwechslung mal die Wahrheit.
„Blöde Beißer.“
Lea sprach das erste Mal, seit sie sich getroffen hatten und zum ersten Mal seit dem Durchbruch der Infizierten am Fabrikzaun musste Martina grinsen.
Sie hielten vor der Polizeiwache, auf der Martina ihren Dienst versehen hatte. Nirgendwo brannte Licht. Meine Überstunden zu zählen, kann ich mir wohl sparen.
„Bleibt im Wagen und verriegelt die Türen, ich will erst nachsehen, ob die Luft rein ist“, wies sie die Kinder an.
Martina stieg aus, ging zum Eingang der Wache und drückte die Tür auf. Niemand war zu sehen. Sie ging über den ihr vertrauten Gang und spähte in ein paar Büros. Keine Menschenseele. Sie durchsuchte das komplette Gebäude, von den Büros in den oberen Stockwerken bis zu den Lagerräumen und Labors im Keller. Alles war vollkommen verlassen. Erst im Gefängnisbereich traf sie auf einen Menschen: In einer der Zellen saß ein Mann!
„Hallo!“, grüßte Martina.
Der Gefangene erhob sich von der Pritsche, auf der er gesessen hatte, und meinte:
„Wurde auch Zeit! Ich will sofort mit meinem Anwalt sprechen!“
Der Mann sah aus wie ein Rockstar. Er trug schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, war sehr muskulös und an den Armen voller Tattoos. Dazu ein Jungengesicht, das kaum zu seinem gestählten Körper passte. Martina gefiel der Kerl sogar irgendwie.
„Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen, ich bin nicht wegen Ihnen hier.“
„Haben Sie eine Ahnung, wie lange man mich hier schon sitzen lässt?“
„Nein.“
„Und wie lange mir keiner mehr was zu essen gebracht hat?“
„Nein.“
Martina überlegte: Sie hatte vorgehabt, Michael in einer der Zellen zu verwahren. Da die Station aber nur wenige davon hatte, die sich alle im selben Gang befanden, kam es ihr widerlich vor, den Mann die Nacht neben Michael verbringen zu lassen.
„Ich bin sofort wieder da.“
Sie ging zurück nach oben. Ihr Büro lag im vierten Stock. Hinter den Fenstern ging die Fassade glatt herunter. Keine Chance zu klettern. Sie holte ihren Schlüsselbund hervor, schloss ab und testete die Tür. Wie üblich war sie billig und dünn, damit sperrte man niemanden ein. Aber auf dem Gang stand doch der Getränkeautomat! Sie rückte die Maschine unter gewaltiger Anstrengung neben die Tür. In der leeren Wache kam ihr der Krach, den sie damit verursachte, vor, als müsste die ganze Stadt sie hören.
Zurück im Zellentrakt, teilte sie dem Mann mit:
„Sie werden verlegt.“
„Was? Wieso verlegt? Ich sollte schon draußen sein.“
„Darüber reden wir morgen.“
Sie zog ihre Waffe und entsicherte sie.
„Ich werde sie nun rauslassen, dann gehen wir beide nach oben. Wenn Sie irgendwas versuchen, wird das Konsequenzen haben, die Ihnen nicht gefallen werden.“
„Aber ...“
„Verstanden?“
„Aber ich …“
„VERSTANDEN?“
„Schon gut. Verstanden.“
Martina öffnete die Zellentür und ließ ihn voran gehen. Sie dirigierte ihn bis in ihr Büro, nahm eine Schachtel Kekse, die sie als Notvorrat in einer Schublade aufbewahrt hatte, und warf die ihm hin. Dann zog sie auf dem Gang eine Apfelschorle, stellte die Flasche in den Raum, schloss die Tür und rückte den Getränkeautomat davor.
„Ich sehe morgen nach Ihnen“, versprach sie und beeilte sich, zurück zum Wagen zu kommen, um nach den Kindern zu sehen.
Ihre Sorge war unbegründet. Die Türen des Wagens waren verriegelt, die Geschwister schliefen auf der Rückbank, Lea im Arm ihres Bruders. Martina entschied, sie dort zu belassen und sich zuerst um Michael zu kümmern. In der Wache fand sie einen großen Aktenwagen, den sie vor der Kofferraumhaube parkte. Als sie den Kofferraum öffnete, wurde sie mit einem Fauchen belohnt.
„Na, freust Du Dich auch, mich zu sehen?“
Er stöhnte dumpf unter dem Stoffsack und versuchte, sie trotz seiner Fesseln zu erreichen. Martina versuchte ihn aus dem Kofferraum und auf den Aktenwagen zu bugsieren, doch es war aussichtslos. Er war einfach zu schwer und sein ständiges Gehampel machte es nicht leichter. Kurz überlegte sie, ihn einfach an Ort und Stelle zu lassen. Aber wie sollte sie das seiner Frau Jana erklären? Was sollte sie ihr überhaupt sagen?
Das Geräusch der Autotür schreckte sie auf. Ferdinand stieg aus dem Wagen und rieb sich das Gesicht. Martina schlug die Kofferraumhaube zu und sah ihn an.
„Na, gut geschlafen?“
Er zuckte die Achseln. „Lea schläft noch.“
„Lassen wir ihr noch eine Weile. Und Du solltest auch wieder einsteigen, ich habe hier noch was zu tun.“
Ferdinand ging ums Auto und deutete auf den Kofferraum. „Da drin ist ein Beißer, oder?“
„Er