„Das kommt ganz auf Sie an. Und wie Ihr Großvater Ihr Verhalten beurteilt. Ihr Mitbewohner ist in der Küche. Sie sollten sich miteinander bekannt machen. Vergessen Sie morgen nicht das Abendessen bei Ihrem Großvater.“
Er drehte sich um und ging zur Tür. Walter folgte ihm grinsend. An der Tür blieb Piers noch einmal stehen. „Ehe ich es vergesse, Arbeitsbeginn ist um sieben Uhr. Sie dürfen ausnahmsweise mal etwas später kommen, weil es ja Ihr erster Tag ist. Gute Nacht!“
„He, was soll das heißen?“, rief Julien. Arbeitsbeginn? Er und arbeiten? Das sollte doch wohl ein Scherz sein! Und dann noch um sieben Uhr? Hatte er wirklich sieben Uhr früh gemeint? Musste er ja wohl, wenn um acht Uhr abends das Abendessen bei seinem Großvater war.
Unentschlossen stand er auf dem Flur. Was sollte er jetzt machen? Missmutig starrte er aus dem Fenster. Walter und Piers waren längst mit dem Auto davongefahren und weit und breit war kein anderes Fahrzeug in Sicht.
Keine Fluchtmöglichkeit. Langsam sickerte dieser Gedanke zu Julien durch. Von hier kam er nicht so schnell wieder weg. Weit und breit waren keine anderen Häuser in Sicht. Das nächste Dorf musste Kilometer weit weg sein.
Und nun? Julien beschloss, dass er genauso gut auch in die Küche gehen konnte, um sich seinen neuen Mitbewohner anzusehen. Wenigstens hatte der schon Essen gekocht. Anscheinend der einzige Komfort in diesem Haus, sein Mitbewohner kochte. Na toll.
Langsam ging Julien in die Küche. Dies war das erste Mal, dass er eine Küche von innen sah. Nicht, dass er nicht wusste, wie eine Küche aussah oder was diese Dinger, die sich überall stapelten, bezweckten. Er war ja schließlich nicht dumm oder so was. Trotzdem erschien es Julien, als betrete er eine fremde, ihm feindliche Welt.
Jemand pfiff zu den Klängen eines englischsprachigen Popsongs. Ein Radio stand in der Ecke, wenigstens das wusste Julien eindeutig zu benennen. Sein Mitbewohner stand mit dem Rücken zu ihm und hielt ein Metallteil in der Hand. Eine Pfanne, erkannte Julien.
Schließlich nahm sein Mitbewohner die Pfanne vom Herd und drehte sich um. Julien erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, während der andere die Pfanne auf den gedeckten Tisch setzte.
Das konnte doch nicht wahr sein, dachte Julien. Er kannte dieses Gesicht - leider! Ungläubig starrte er ihn an. Sie hatten sich einen Scherz mit ihm erlaubt, anders konnte er sich das nicht erklären. Aber wenn, dann war das ein schlechter Scherz, ein sehr schlechter Scherz. Aber was sonst hatte der Kerl hier verloren?
„Hallo, da bist du ja. Du kommst gerade rechtzeitig zum Abendbrot. Sieht so aus, als würden wir eine Weile miteinander auskommen müssen, nicht wahr? Ich muss gestehen, ich wollte schon immer mal was von Europa sehen und dass ich jetzt hier eine Weile wohnen darf, ist doch klasse!“, meinte Jack begeistert und grinste Julien an.
Julien blinzelte. Mehrmals. Das war kein Traum, keine Halluzination.
Oh, Scheiße!
8
Montage waren doch etwas Widerliches, dachte Alexander. Der Beginn einer neuen Arbeitswoche, der Tag nach Sonntag. Und in diesem Fall nach einem ganz besonders schlimmen Sonntag. Wer wollte an so einem Tag denn aufstehen und zur Arbeit gehen? Alexander auf jeden Fall nicht. Und dann spielte das Radio auch noch „I don’t like Mondays“. Sehr passend.
Alexander wünschte sich, er hätte zur Arbeit gehen können und müsste nicht stundenlang darauf warten, dass sein Großvater ihn endlich zu sich rief. Eine aufgeschobene Standpauke wurde mit der Zeit auch nicht besser und Alexander dachte sich inzwischen schon die schlimmsten Schauergeschichten aus. Sein Großvater würde ihn feuern und er müsste sich dann einen ganz normalen Job suchen. Aber das war noch die harmloseste Vorstellung. Schlimmer noch, er würde die Standpauke vor der versammelten Familie bekommen, vor seiner Frau und seinen Kindern. Vor Edward.
Er verzog das Gesicht. Wie wahrscheinlich war das denn? Leider sehr wahrscheinlich, musste Alexander zugeben, jedenfalls was Edwards Gegenwart betraf. Keine Ahnung, wie er es jedes Mal anstellte, aber wenn sein Großvater wütend auf ihn war, dann war Edward jedes Mal auch da.
Vielleicht hatte er ja überall Spione sitzen, die ihn sofort informierten? Seinem Cousin würde er so etwas jedenfalls glatt zutrauen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sein Großvater es ihm jedes Mal brühwarm erzählte, wenn Alexander wieder etwas angestellt hatte, und das konnte er sich nicht vorstellen. Sein Großvater legte viel Wert auf Diskretion. Nein, sein Großvater würde nichts herumerzählen.
Wie lange musste er denn noch warten? Unruhig ging er auf und ab. Er befand sich in seinem alten Zimmer, das er in den letzten fünf Jahren, seit seinem Auszug, immer noch gelegentlich benutzt hatte. Es war praktisch, nicht jedes Mal den langen Weg nach Hause fahren zu müssen, wenn sein Großvater eine Feier gegeben hatte und es mal wieder spät geworden war.
Alexander warf einen Blick auf die Uhr. Sechs Uhr abends. Also langsam verstand er die Welt nicht mehr. Seit zehn Uhr morgens wartete er hier nun schon darauf, dass sein Großvater ihn zu sich rief. Nur ein paar Kleinigkeiten hätte er noch zu klären, hatte Adler ihm bei seiner Ankunft gesagt. Was denn für Kleinigkeiten? Und wieso dauerte es so lange? Das konnte doch nicht alles wichtiger sein, oder etwa doch?
So langsam kam ihm der Verdacht, dass sein Großvater ihn vergessen hatte. In Gedanken malte er sich aus, wie er als reuiger Sünder in seiner Zelle auf das Urteil wartete, das nicht kam. Jahre gingen ins Land, sein Bart reichte irgendwann bis auf den Boden, die Zähne fielen ihm aus und er wurde alt und gebrechlich, während seine Frau und seine Kinder vergebens auf ein Lebenszeichen von ihm warteten, bis sie schließlich irgendwann die Hoffnung aufgaben und ihn vergaßen.
Tränen kullerten ihm über die Wangen. Er würde nie erleben, wie sein Sohn sprechen lernte, wie seine kleine Prinzessin eingeschult wurde! Nie wieder würde er seine geliebte Isabelle küssen dürfen! Wie lange sie wohl auf ihn warten würde? Ob sie ihn wohl auch so vermissen würde wie er sie?
Doch halt! Seine Fantasie war mal wieder mit ihm durchgegangen, das passierte ihm ständig, wenn er zu viel Zeit zum Grübeln hatte. Er musste endlich etwas tun! Aber was?
Er sah zur Tür. Er konnte natürlich einfach hier herausspazieren, überlegte er. Dies war schließlich kein Gefängnis und mit Wachen musste er auch nicht rechnen, er hatte ja nur eine Dummheit gemacht. Aber andererseits hatte Adler gesagt, er solle hier warten und sich nicht vom Fleck rühren und dieses Mal solle er, verdammt noch mal, gehorchen und nicht wieder wegrennen.
Adler war richtig wütend gewesen. Alexander hatte vor, ihm dieses Mal keinen Grund zur Beschwerde zu liefern, aber sollte er deswegen ewig hierbleiben? Da konnte er ja noch lange warten! Adler selbst hatte sich auch schon seit Stunden nicht mehr blicken lassen. Wenigstens hatte er mittags etwas zu essen bekommen.
Alexander riskierte einen weiteren Blick. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Auf leisen Sohlen schlich er zur Tür, so konnte er jederzeit hören, falls sich auf dem Flur jemand näherte. Ein paar Sekunden verstrichen, bevor er sich überwinden konnte, vorsichtig die Türklinke hinunterzudrücken. Wovor hatte er eigentlich Angst? Die Türklinke würde sich schon nicht vor seinen Augen in ein unheimliches Monster verwandeln und ihn auffressen! Alter Feigling!
Plötzlich mutig geworden packte er die Klinke und riss die Tür auf. Erleichtert seufzte er. Niemand hielt vor der Tür Wache. Der Flur war leer. Natürlich bis auf die Möbel, die Gemälde und die Statuen und all den Kram. Keine Menschenseele zu sehen.
Alexander merkte erst, dass seine Gedanken wieder zu wandern begonnen hatten, als er zu der Frage kam, welche Farbe wohl Menschenseelen hatten und wie sie sich von Pflanzen- oder Tierseelen unterschieden. Vielleicht waren Menschenseelen ja blau und die anderen hatten andere Farben? Hm, das war eine interessante Frage, entschied Alexander, doch in diesem Moment sollten ihn doch besser andere Dinge beschäftigen.
Da! Hatte er nicht etwas gehört?
Ein Tapsen oder ein schleichendes Geräusch vielleicht? Alexander schüttelte den Kopf. Seine Fantasie spielte ihm mal wieder einen Streich, bestimmt hatte er sich das