Die Suche. Antje Babendererde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Antje Babendererde
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738070446
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sie. „Aber wenn Sie noch einmal solchen Unsinn von sich geben, lege ich auf.“

      „Ich kann darüber nicht am Telefon sprechen. Können wir uns irgendwo treffen? Heute noch?“

      „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“

      Jem lehnte seinen Kopf gegen die Wand und stöhnte leise. „Nein, ganz bestimmt nicht“, sagte er. „Ich brauche wirklich Ihre Hilfe.“

      „Also gut“, meinte sie nach einem ewig langen Moment. „In anderthalb bis zwei Stunden kann ich bei Ihnen sein.“

      „Nein, nicht hier“, widersprach Jem mit gedämpfter Stimme. „Ich komme zu Ihnen nach Thunder Bay. Wo kann ich Sie treffen?“

      Wieder Stille. „Miss Toshiro?“

      „Kennen Sie sich ein wenig aus in der Stadt?“

      „Nicht so gut wie in der Wildnis, aber ich werde Sie schon finden.“

      „Ich warte auf Sie im Windmill Café an der Uferpromenade.“

      „Okay.“ Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand. „Spätestens um sieben bin ich da.“

      Jem hängte ein und schlüpfte in sein Hemd. Er kannte das Café nicht, aber er würde es finden. Während seiner Collegezeit in Kenora hatte er gelernt, sich in Städten genauso sicher zu bewegen und zurechtzufinden wie in der Wildnis. Wenn es notwendig war, konnte man sogar Dinge erlernen, die einem nicht unbedingt im Blut lagen. Er hatte gelernt in einer Welt zu überleben, die ihm nicht freundlich gesinnt war. Das war ihm schon oft von Nutzen gewesen.

      Jem bemerkte eine Bewegung in seinem Rücken und drehte sich um. Ranee stand in der Tür, mit nichts am Leib außer ihrem Amulett, dass sie niemals ablegte. Trotz ihrer Größe besaß ihr Körper katzenartige Geschmeidigkeit. Sie war so schlank, dass ihre Rippen hervortraten, wenn sie einatmete.

      „Wer war das?“ Neugierig sah sie in an.

      „Walter Katz, der Anwalt aus Thunder Bay“, log Jem, in der Hoffnung, dass sie noch nicht lange genug dort stand, um zu wissen, mit wem er wirklich gesprochen hatte. „Wir haben noch einiges wegen des Gerichtstermins zu besprechen, das besser nicht am Telefon gesagt werden sollte. Ich bin in Eile.“

      „Kann ich mitkommen?“ Sie kam auf ihn zu und lehnte sich gegen ihn. Er roch den Duft ihrer wilden Vereinigung, die noch keine Stunde zurücklag. Manchmal, wenn er sie berührte, wenn er in ihr war, spürte er etwas von ihrer unheimlichen Macht, die sich auf ihn übertrug.

      Jem gab Ranee einen flüchtigen Kuss und schob sie von sich weg. „Ein anderes Mal“, sagte er. „Ich muss jetzt los.“

      Der Gestank der Papierindustrie erreichte Jem, als er sich dem Stadtrand von Thunder Bay näherte. Er schloss das Fenster, um den Mief auszusperren.

      In der Stadt arbeiteten sieben Zellstoffmühlen, riesige Fabriken, in denen täglich tonnenweise Holz zu Zellulose verarbeitet wurde. Fünf davon gehörten Paul Conley, einem der reichsten Männer von Thunder Bay. Sollte die Shimada Paper Company die Wälder um den Jellicoe Lake abholzen dürfen, würde Conley sich eine goldene Nase verdienen, denn seine Zellstoffmühlen lieferten den Rohstoff für die Papierhersteller. Die rechtmäßigen Besitzer der Bäume würden dagegen wie immer leer ausgehen.

      Alter Zorn regte sich in Jem. Nach und nach verlor sein Volk alles, zuletzt auch seine Würde. Das erledigte der Alkohol. Er war wie eine quälende Krankheit, schwächte Kraft, Verstand und Liebe, tötete das Lachen und sogar die Träume. Alles, was sein Volk einst ausgemacht hatte. Im Rausch vergaß es sogar seine seit Generationen überlieferten Geschichten.

      Weiße und Indianer schienen in einer Art Parallelwelt zu leben, die meiste Zeit hatten sie überhaupt nichts miteinander zu tun. Und wenn sie es doch taten, dann weil ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen und ihre unterschiedlichen Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit aufeinanderprallten. Mit ziemlicher Sicherheit lag Ärger in der Luft, wenn Ureinwohner und Weiße ihre Aufmerksamkeit aufeinander richteten.

      Heute kam der Wind aus dem hohen Norden. Bei Ostwind verpestete der Rauch aus den Schloten der Zellstoffmühlen die Luft über der Stadt und Jem fragte sich, wie man freiwillig hier leben konnte, wenn es auch noch andere Möglichkeiten gab. Jedes Mal, wenn er der Wildnis den Rücken kehrte, um sich ins Chaos der Zivilisation zu begeben, empfand er die Hässlichkeit wie Schorf auf dem Leib von Mutter Erde. Städte waren Orte, in denen ein lebendiger, atmender Organismus von Beton und Asphalt bedeckt war. Eine kalte, lebensfeindliche Welt - so empfand er es jedenfalls.

      Zwischen den Mauern der Häuser bekam Jem Beklemmungen und die Geräusche der Zivilisation machten ihn nervös. Aber er hatte keine Angst mehr, wie damals, als er mit vierzehn nach Kenora gekommen war und gefürchtet hatte, in der Welt der Weißen unterzugehen. Bis er es gewagt hatte, noch nach Anbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen, waren Wochen vergangen. Aber es war nicht die Dunkelheit, die er gefürchtet hatte, sondern ihre Abwesenheit. Dass es in der Stadt nie wirklich dunkel wurde, irritierte ihn noch heute. Selbst die Sterne zogen sich hinter diesen rötlich grauen Dunst am Himmel zurück, der nicht natürlichen Ursprungs war.

      Damals hatte er sich gezwungen, nach draußen zu gehen. Hatte das Durcheinander in seinem Inneren bezwungen und sich an diesen neuen Rhythmus gewöhnt. Zuletzt konnte er problemlos hin- und herspringen zwischen dem Leben in der Stadt und dem im Reservat. Er war ein Wanderer zwischen den Welten geworden.

      Jem fand das Windmill Café an der Uferpromenade auf Anhieb. Canyon saß allein an einem der runden Metalltische unter einem zusammengeklappten Sonnenschirm und wartete auf ihn. Er hatte sich verspätet und war froh, dass sie nicht gegangen war.

      Canyon hatte ihr Haar mit einer Spange im Nacken zusammengenommen, was sie wie ein junges Mädchen aussehen ließ. Diesmal reichte er ihr die Hand und zwang sich zu einem Lächeln. Er wollte etwas von ihr, und so hielt er es für besser, die Regeln der Höflichkeit einzuhalten.

      Canyon trug helle Jeans, ein orangefarbenes T-Shirt und hatte flache Wildlederschuhe an den Füßen. In dieser einfachen Kleidung wirkte sie weniger unnahbar, weniger perfekt, was ihn ein wenig entspannte.

      „Ich habe mich verspätet“, entschuldigte er sich. „Ein Straßenbautrupp hat Schlaglöcher ausgebessert und ich musste eine Viertelstunde warten.“

      „Das macht nichts.“ Canyon lächelte. „Wir können hierbleiben, aber das Café hat geschlossen, weil der Besitzer wechselt. Ich habe das nicht gewusst, als ich diesen Treffpunkt wählte. Es tut mir leid.“

      Es tat ihr leid, dass dieses Café geschlossen war. Aber sie brachte es nicht fertig, ihm zu sagen, dass ihr das Verschwinden seines Sohnes leid tat. Was war bloß los mit dieser Frau, die ihre Gefühle so gut unter Kontrolle hatte?

      Jem kniff unwillig die Augen zusammen. Auf einmal bereute er, hierhergekommen zu sein. Canyon Toshiro konnte ihm nicht helfen. Sie machte nur ihren Job und vermutlich machte sie ihn gut. Doch ging es in diesem Fall um ganz andere Dinge. Dinge, die sie wahrscheinlich nie begreifen würde.

      „Kein Problem.“ Er ließ ihre Hand los. „Wir finden etwas anderes. Haben Sie schon etwas gegessen? Ich lade Sie ein.“

      Jem war nicht wild darauf, mit Miss Jugendamt essen zu gehen, aber vielleicht half es, ihr zu beweisen, dass er ein ganz normaler Mann war und kein exotisches Exemplar einer aussterbenden Rasse.

      „Vielen Dank, Jem“, sagte sie, „aber ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Mein Kühlschrank quillt über, denn ich bin seit zwei Tagen nicht dazugekommen, etwas zu kochen.“

      „Tut mir leid“, sagte er, „dass Sie nun auch noch meinetwegen Überstunden machen müssen.“

      „Kein Problem“, erwiderte Canyon, „das ist mein Job. Ich habe ihn mir ausgesucht und mache ihn gern. “ Sie sah ihn erwartungsvoll an. „Ich könnte uns etwas kochen? Es würde mir keine Umstände machen.“

      Jem hob die Schultern. Damit hatte er nicht gerechnet. Er sah die Bitte in ihren braunen Augen und erkannte auf einmal, wie einsam sie war. Plötzlich bekam er Mitleid. „Also gut“,