Canyon verdrehte die Augen. „Wer hat sich eigentlich um Stevie gekümmert, während sein Vater arbeitete?“
„Seine Oma. Soonias Eltern leben auch in der Siedlung. Elsie Soonias war damals schon Mitte fünfzig und ihr Mann Jakob gerade sechzig geworden. Aufgrund ihres Alters haben wir sie als Pflegeeltern nicht in Betracht gezogen. Zugegeben, heute sehe ich auch einiges anders als damals.“ Sarah klopfte mit dem Kuli auf die Tischplatte. „Natürlich wäre es idiotisch gewesen, den Jungen zu fremden Menschen zu geben, wenn er einen Vater hat, der ihn liebt und eine Familie, die sich um ihn kümmern kann.“
„Wir versuchen doch nur, das Beste für diese Kinder zu tun“, warf Canyon ein.
„Natürlich.“ Stimmte Sarah ihr zu. „Aber das Beste ist vielleicht nicht immer das Richtige. Armut und Verwahrlosung gibt es schließlich überall, Can, auch unter uns Weißen. Aber was die Indianer angeht, tragen wir eine gewisse Schuld und die sitzt uns jedes Mal im Nacken, wenn wir mit ihnen zu tun haben. Sixties Scoop gilt zwar inzwischen als historischer Faktor“, sagte sie, „aber wie es aussieht, haben wir auf dem Jugendamt auch heute noch jeden Tag mit den hässlichen Auswirkungen des Programms zu tun.“
Sixties Scoop war jedem kanadischen Sozialarbeiter ein Begriff. Das Assimilationsprogramm war bis in die achtziger Jahre hinein praktiziert worden. Über zwei Jahrzehnte hinweg hatte man in Kanada überdurchschnittlich viele indianische Kinder ihren Familien entrissen und bevorzugt an weiße Mittelklassefamilien zur Adoption freigegeben. Damals war auf den Adoptionspapieren bewusst darauf verzichtet worden, die leiblichen Eltern mit Namen zu nennen. Auf diese Weise sollten die Kinder daran gehindert werden, später etwas über ihre indianischen Eltern herauszufinden. Meist wurde ihnen erzählt, sie wären italienischer oder griechischer Abstammung, deshalb das schwarze Haar und die dunkle Haut.
Man wollte diesen eingeborenen Kindern ein privilegiertes Leben ermöglichen, aber dadurch verloren sie den Zugang zu ihrem kulturellen Hintergrund und büßten außerdem ihren Status als Indianer ein. Der Schaden, der dadurch an Leib und Seele dieser Kinder angerichtet wurde, hatte schlimme Folgen. Nur die Wenigsten von ihnen führten heute ein normales Leben. Sie gaben ihr Trauma an ihre Kinder und Kindekinder weiter.
Erst der Indian Child Welfare Act von 1978 stellte sicher, dass Indianerkinder nicht mehr aus dem Zuständigkeitsbereich des Stammes entfernt und von weißen Familien adoptiert werden durften. Doch der Stachel der Bitterkeit über die verlorenen Kinder saß auch heute noch tief im Gedächtnis der Ureinwohner.
„Ja“, sagte Canyon. „Viele von ihnen denken immer noch, dass wir ihnen ihre Kinder wegnehmen und Weiße aus ihnen machen wollen. Diese Angst sitzt in ihren Köpfen und wird an die nächste Generation weitervererbt. Ich fürchte, in Jem Soonias Augen bin ich ein Monster, das es auf seinen Sohn abgesehen hat.“
Sarah lachte herzlich über Canyons unglückliches Gesicht. „Nun mach mal halblang“, sagte sie, „so schlimm wird es schon nicht sein. Ich nehme an, Stevies Vater kennt die Gesetze und seine Rechte sehr genau. Aber wenn ich mich voller Verzweiflung an die Polizei wende, weil mein Kind verschwunden ist, und man mir gleich jemanden vom Jugendamt vorbeischickt, wäre ich auch sauer.“
„Ja, aber das ist der übliche Weg“, rechtfertigte sich Canyon. „So sind nun mal die Vorschriften.“
„Ich weiß. Aber möglicherweise wusste Jem Soonias das nicht.“
Canyon murmelte etwas Unverständliches und ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder. Sie klappte die Akte auf und las. Jem Soonias, Statusindianer und Angehöriger der Woodland Cree, war vierunddreißig Jahre alt und hatte einen tadellosen Lebenslauf.
Aufgewachsen im Reservat, war er seit seinem vierzehnten Lebensjahr auf eine Internatsschule in Kenora gegangen, hatte später ein College in derselben Stadt besucht und war als junger Lehrer in sein Reservat zurückgekehrt. Er unterrichtete Englisch, Stammessprache und amerikanische Geschichte an der High-School von Nipigon. Das entsprach dem, was er ihr erzählt hatte.
Ein Jahr nach dem Tod von Stevies Mutter hatte er nach einem erbitterten Kampf das Sorgerecht für seinen Sohn erhalten und ihn adoptiert. Seitdem hatte das Jugendamt nichts mehr mit den beiden zu tun gehabt. Bis gestern. Jem Soonias hatte telefonisch die Stammespolizei in Nipigon verständigt, weil er seinen Sohn Stevie nirgendwo finden konnte. Constable Miles Kirby hatte sich an das Police Department von Thunder Bay gewandt und Inspektor Harding hatte das Jugendamt verständigt.
„Soonias glaubt an eine Entführung“, bemerkte Canyon nachdenklich. „Aber warum sollte jemand einen Indianerjungen entführen?“
Sarah hob die Schultern. „Was weiß ich. Vielleicht weil er ein hübscher Bursche ist und irgendeiner weißen Frau gefallen hat, die selbst keine Kinder bekommen kann. Wahrscheinlich hat sie noch nichts vom Indian Child Welfare Act gehört und dachte sich, dass die Eltern des Jungen vielleicht froh sind, einen Esser weniger am Tisch zu haben.“
Canyon musste lachen. „Du guckst zu viel Fernsehen, meine Liebe. Solche Leute wollen nur niedliche Babys mit großen dunklen Augen und keine halbwüchsigen Wilden. Stevie ist neun und liebt die Wildnis. Einer wie er lässt sich nicht irgendwo ein neues Leben aufzwingen, das er nicht will.“
„Vielleicht gefällt es ihm ja, wo er jetzt ist. Vielleicht ist er freiwillig mitgegangen.“
„Das glaube ich nicht, Sarah. Es sah alles nach einem ziemlich intakten Zuhause aus. Immerhin hat der Junge jemanden, der will, dass er gefunden wird.“
„Na wunderbar.“
„Aber wo ist Stevie?“
Sarah winkte ab. „Dir darüber den Kopf zu zerbrechen, ist nicht dein Job. Das ist Sache der Polizei. Du bist erst gefragt, wenn der Junge wieder auftauchen sollte. Falls er denn jemals wieder auftauchen sollte.“
Davon wollte Canyon nichts hören. Viel zu oft kam es vor, dass Kinder verschwanden und nie gefunden wurden. Was nicht unbedingt bedeuten musste, dass sie tot waren. Manche liefen von Zuhause weg und trieben sich irgendwo in großen Städten auf den Straßen herum. Wenn sie es schafften, nicht von der Polizei aufgegriffen zu werden, bekam die Familie manchmal jahrelang kein Lebenszeichen von ihnen.
Es gab Entführungsfälle, bei denen die Kinder, wenn sie sehr klein waren, ihre richtigen Familien vergaßen und unter neuem Namen ein völlig anderes Leben führten. Aber es gab auch genug Fälle, in denen die Kinder deshalb nicht gefunden wurden, weil sie tot waren. Missbraucht und irgendwo verscharrt, wo sie vielleicht nie jemand finden würde. Kanada war ein großes Land und bot viele Möglichkeiten, für immer zu verschwinden oder verloren zu gehen.
„Ich hoffe sehr, dass der Junge schnell wieder auftaucht, sein Vater dreht sonst durch.“ Sie seufzte, schloss die Mappe und wandte sich jenem Fall zu, der ihre Abteilung in den letzten Wochen in Atem gehalten hatte. Gestern hatte der Prozess stattgefunden und Canyon musste noch einen Abschlussbericht über den Fall schreiben.
Ein zweiundsechzigjähriger Mann war beschuldigt worden, seine drei minderjährigen Stiefenkeltöchter über Monate und Jahre hinweg missbraucht zu haben. Eine Lehrerin hatte den Mann angezeigt, nachdem ihr eines der Mädchen Dinge erzählt hatte, die der Frau die Haare zu Berge stehen ließen.
Der Mann wurde festgenommen und leugnete zunächst hartnäckig. Doch nach und nach kam die ganze furchtbare Wahrheit ans Licht. Die Mutter der Mädchen, die seit Jahren von Sozialhilfe lebte, hatte ihre Töchter im Alter von acht, zehn und zwölf Jahren regelmäßig gegen Geld und Lebensmittel an Bekannte und Verwandte zur Prostitution angeboten. Unter anderem auch an ihren eigenen Stiefvater. Monatelang waren die Mädchen einem unvorstellbaren Martyrium ausgesetzt gewesen, bevor sich die Älteste ihrer Lehrerin anvertraut hatte, die mit einem Anruf bei der Polizei dem Ganzen ein Ende bereitete. Mutter und Großvater kamen in Untersuchungshaft. Die drei Mädchen brachte man in einem staatlichen Heim, wo sie darauf warteten, von einer Pflegefamilie aufgenommen