Dem hatte sie nichts entgegenzusetzen.
Jem schwieg und sah aus dem Fenster, doch sein Blick schien ins Leere zu gehen. „Ich werde versuchen, Stevie selbst zu finden“, verkündete er schließlich. Canyon wollte protestieren, doch da sprach er schon weiter: „Meine Mutter war bei einer alten, angesehenen Frau im Dorf. Einer Wahrsagerin oder Heilerin, wie auch immer. Sie hat behauptet, dass Sie mir bei meiner Suche helfen können, Canyon. Deshalb bin ich hier.“
Canyon fiel das Messer aus der Hand und schepperte in den Ausguss. Jem drehte sich um und sie blickte ihn ungläubig an. „Ich?“
„Es klingt absurd, ich weiß“, sagte er beinahe entschuldigend. „Aber warum sollte die alte Grace das sagen, wenn es keinen Grund dafür gibt? Fremde sind in Dog Lake nicht gerne gesehen. Man kann also nicht behaupten, dass Sie einen Sympathiebonus haben, weder bei meiner Mutter noch bei Grace Winishut. Und doch riet sie mir, Sie aufzusuchen.“
Befremdet sah Canyon ihn an. „Was ist das Besondere an dieser Grace, das Sie ihrem Rat gefolgt sind? Sie sehen nicht aus wie jemand, der schnell auf andere hört.“
„Grace ist die Heilerin in unserem Dorf. Bevor die Leute sich überwinden, zu einem Arzt in die Stadt zu gehen, suchen sie Grace Winishut auf. Sie hat außergewöhnliche Fähigkeiten.“
„So?“
„Als Kinder glaubten wir, dass sie uns mit einem einzigen Blick in Frösche verwandeln kann.“
Canyon unterdrückte ein Lächeln. „Eine Medizinfrau also.“
Jem seufzte. „Medizinfrau, Wahrsagerin, Heilerin - wie auch immer Sie dazu sagen wollen. Sie hört sich Träume an und hilft bei ihrer Deutung. In ihren eigenen Träumen empfängt sie Lieder, mit denen sie anderen Lebenshilfe leistet. Aber sie kann auch helfen, wenn jemand körperlich krank ist. Ihr Können beruht auf dem geheimen Wissen über die Heilkraft von Pflanzen. Hat eine Krankheit ganz offensichtlich eine natürliche Ursache, wird in der Regel Grace geholt.“
Canyon neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Jem mit fragendem Blick. „Was kann eine Krankheit außer natürlichen denn noch für Ursachen haben?“
Ihr leicht spöttischer Ton ärgerte Jem und er hatte keine Lust, auf ihre Frage zu antworten. „Ich glaube nicht, dass Sie diese Dinge verstehen würden, Canyon. Meine Mutter behauptet jedenfalls, Grace Winishut kann Dinge sehen, die wir nicht sehen können, weil unser Blick nicht so weit reicht wie der ihre.“
„Und Sie glauben daran?“ Auf einmal war kein Spott mehr in Canyons Augen, nur eine Art Zweifel.
Jem beschloss offen zu sein. „Sehen Sie“, sagte er, „ich bin in einer sehr traditionellen Familie aufgewachsen. Animismus ist unsere ...“, er zögerte, „unsere Religion, wie Sie es ausdrücken würden. An diese Dinge zu glauben, liegt sozusagen in meinem Blut. Später, auf dem College, kam mir der Glaube unseres Volkes, das alles in der Natur beseelt ist, fremd vor und ich habe mich davon distanziert. Jetzt weiß ich manchmal nicht mehr, was ich glauben soll. Es gibt Eltern, die würden ihre Kinder nicht in meinen Unterricht schicken, wenn ich versuchen wollte ihnen einzureden, dass Hexen und Waldgeister Aberglauben sind.“
„Aber sie sind es“, erwiderte Canyon mit einem verunsicherten Lachen. „Ich bin mir da ziemlich sicher.“
„Vielleicht, vielleicht aber auch nicht“, entgegnete er. „Vielleicht ist es ein Irrtum, wenn wir annehmen, dass die Welt für uns alle gleich ist.“
„Es gibt nichts als die Wirklichkeit, Jem.“ Canyons Stimme war voller Überzeugung. „Sie ist das Einzige, was zählt.“
„Schon möglich. Aber kann es nicht sein, dass Ihre Wirklichkeit eine andere ist als meine?“ Als sie daraufhin nicht antwortete, räusperte er sich und meinte: „Immerhin, was Grace gesagt hat, veranlasste mich dazu, hierher zu kommen und Sie um Hilfe zu bitten. Ich sehe keine andere Möglichkeit mehr und ich kann auch nicht herumsitzen und nichts tun, während mein Sohn vielleicht in großer Gefahr ist.“
„Ich verstehe.“ Canyon nickte. Sie reichte ihm den Thunder Bay Observer. „Schauen Sie auf Seite 4.“
Jem schlug die Zeitung auf und fand das Foto von Stevie, das er Miles Kirby überlassen hatte. Es war nicht groß und doch versetzte es ihm einen Stich, als sein Sohn ihm aus der Zeitung entgegenblickte. Stevie sah sehr nachdenklich aus auf diesem Bild und seltsam wissend. In einem kleingedruckten Aufruf bat die Polizei um Mithilfe. Wer den Jungen gesehen hatte, sollte sich melden. Dazu drei verschiedene Rufnummern, unter denen auch die von Canyons Büro im Jugendamt war.
„Stevies Verschwinden hat keine Schlagzeilen gemacht“, gab Canyon zu. „Bei einem weißen Kind wäre das mit Sicherheit anders gewesen.“
„Ich bin froh, dass es nicht so ist“, erwiderte Jem. „Sonst würden mir plötzlich irgendwelche Reporter die Tür einrennen.“
„Aber je mehr Menschen wissen, wie Stevie aussieht, umso größer ist die Chance, dass er erkannt wird und jemand sich meldet.“
„Das mag der Fall sein, wenn Stevie ausgerissen wäre. Aber das ist er nicht.“
Canyon nickte erneut, sagte aber nichts. Sie forderte ihn auf, ihr mit der Salatschüssel über den Flur ins Wohnzimmer zu folgen. Drinnen schaltete sie zwei verschiedene Lampen an, die den Raum in warmen Ockertönen aufleuchten ließen. Jem stellte die Schüssel auf den Esstisch aus unlackiertem Zedernholz und sah sich um. Die Tür zum Balkon stand offen und die Luft, die hereinströmte, war angenehm frisch.
In Canyons Wohnzimmer standen eine gemütliche Couch mit einem in Pastellfarben gemusterten Überwurf, ein Beistelltisch und zwei Sessel. Das angenehme Licht kam von einer Stehlampe und einer Wandleuchte. Canyon besaß einen großen Flachbildschirm und an der Wand über der Couch hingen japanische Rollbilder mit Schriftzeichen, daneben ein schwarz-weiß Portrait eines Mannes mit ausgeprägt japanischen Gesichtszügen. Zwei ordentlich sortierte Bücherregale standen an der gegenüberliegenden Wand.
Es war ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, aber er fühlte sich ein wenig unbehaglich wegen der pedantischen Ordnung, die darin herrschte. Was verbirgt sich hinter dem äußeren Schein?
Canyon schloss die Balkontür, was Jem halb bedauerte, halb begrüßte. Nun war es still, die Geräusche der Stadt drangen nicht mehr zu ihnen herein. Gleichzeitig fühlte er sich eingeschlossen in dem kleinen Raum. Canyon ließ ihn allein und als sie wenig später mit zwei Tellern und Besteck aus der Küche zurückkehrte, stand er immer noch vor den japanischen Rollbildern.
„Sie passen nicht wirklich in diesen Raum, der grellen Farben wegen“, sagte sie, „aber sie sind alles, was ich von meinem Vater habe. Irgendwie hänge ich dran.“
„Das verstehe ich gut.“ Jem besaß kaum etwas, das ihn an Mary erinnerte. Nur den geschnitzten Schaukelstuhl, das Einzige, was sie aus ihrem Zuhause mitgebracht hatte. Ihr gemeinsames Leben im neuen Haus hatte nur ganze vier Wochen gedauert. Eingezogen waren sie mit Marys Schaukelstuhl, zwei Matratzen, einem Tisch und zwei Holzstühlen. Er sah Mary, die mit ihrem runden Bauch durch die leeren Räume tanzte. „Heiratest du mich jetzt, Jem?“, hatte sie lachend gefragt, die Wangen gerötet vor Glück.
Die Erinnerung quälte ihn.
„Ist er das?“ Jem wies auf das Foto.
„Ja. Er starb bei einem Autounfall. Es war an meinem zwölften Geburtstag.“
„Das muss schlimm für Sie gewesen sein.“ Für einen Augenblick vergaß Jem seinen eigenen Kummer, weil der ihre so offensichtlich die Atmosphäre des Raumes beherrschte.
„Immer wenn ich Geburtstag habe, muss ich daran denken. Es hat nie wieder einen fröhlichen Geburtstag für mich gegeben. Ich habe mir schon lange abgewöhnt, ihn zu feiern.“
„Vielleicht denken wir zu oft an diejenigen, die sich von unserem Leben verabschiedet haben“, sagte