Er hatte sich immer sicher gefühlt an der Seite seines Vaters. Doch nun war diese Sicherheit weg. Nichts war mehr sicher, seit Stevie verschwunden war.
„Es sind schwierige Zeiten für unser Volk“, sagte er zu seinem Vater. „Aber ich bezweifle, dass das Praktizieren von alten Bräuchen unseren Wald vor Shimadas Holzerntemaschinen retten kann.“
„Du hast zu lange in der Welt der Weißen gelebt“, erwiderte Jakob. „Ich hätte nicht einwilligen dürfen, dass du auf diese Internatsschule gehst, so weit weg von uns und unserem Leben. Das hat dich verändert und war nicht gut für dich. Du hast so vieles vergessen von dem, was ich dich lehrte. Stevie ist ganz anders als du.“
Die Kritik seines Vaters traf Jem ins Mark. „Er ist noch ein Kind, Vater. Hexen und Waldgeister faszinieren ihn, wie jedes andere Kind in seinem Alter auch. Immer wieder verlangt er von mir, dass ich ihm die alten Geschichten erzähle.“
„Kennst du denn noch welche?“ Jakob blieb stehen, drehte sich um und sah seinen Sohn fragend an.
„Natürlich. Du hast sie mir erzählt und ich habe sie nicht vergessen. Ich habe nichts von dem vergessen, was du mir erzählt hast. Auch wenn du mir das vielleicht nicht glaubst. Aber die alten Geschichten können uns nicht retten, Dad. Sie konnten Simon nicht retten.“
„Weil er sich von ihnen abgewendet hat.“
„Aber warum hat er das getan?“
Jakob schwieg eine Weile. „Es war meine Schuld“, sagte er schließlich.
„Deine Schuld?“
„Ja. Ich nahm ihn mit auf die Jagd, um ihm klarzumachen, dass die alten Geschichten untrennbar mit dem Praktizieren der alten Bräuche verbunden sind. Dass er ein Jäger sein muss, um ein guter Cree zu sein. Aber Simon war kein Jäger. Er war ein naachin, ein Träumer. Er liebte Geschichten und er hasste den Tod.“
Im Mondlicht sah Jem glänzende Spuren von Tränen auf den Wangen seines Vaters. Jakob schwieg lange.
„Du musst dich selbst auf die Suche nach Stevie machen“, sagte er schließlich. „Du bist sein Vater und kennst ihn am besten. Wenn man etwas verloren hat, muss man den Weg noch einmal zurückgehen, um es zu finden.“ Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und blies den blauen Rauch in den Himmel. Mondlicht formte seltsame Schatten aus dem Tabaknebel. „Aber allein kannst du es nicht schaffen. Lass dir von einer Medizinfrau helfen. Grace Winishut hat Einblick in die Zukunft, Jem. Sie kann dir helfen, deinen Geistern zu begegnen.“
„Sie ist eine alte Frau, Dad, die sich mit Kräutern und Heilpflanzen auskennt. Dass sie in die Zukunft blicken kann, halte ich für ein Gerücht. Ranee wird mir helfen.“ Jem straffte seine Schultern. „Sie ist jetzt meine Frau.“
Jakob schüttelte den Kopf. „Nicht sie, mein Sohn. Sie hat kein Interesse daran, Stevie zu finden. Ranee will nur dich, nicht den Jungen.“ Zögernd meinte er: „Diese junge Frau mit dem kurzen Rock, mit dem roten, ausländischen Wagen ...“
„Miss Toshiro vom Jugendamt?“ Jem glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
„Ja, die. Sie wird dir helfen.“
Jem bedachte seinen Vater mit einem Blick jäher Verwunderung. „Warum ausgerechnet sie, Dad? Ihr einziges Interesse besteht darin, mir irgendetwas anzuhängen, damit das Jugendamt mir Stevie wegnehmen kann. Wie kommst du bloß darauf, dass diese Frau mir helfen könnte? Sie ist eine Fremde.“
„Grace Winishut hat es gesagt. Deine Mutter war heute bei ihr. Du solltest mal bei Grace vorbeischauen, vielleicht hat sie einen Hinweis für dich.“
In einer hilflosen Geste hob Jem die Hände und ließ sie dann wieder sinken. „Tut mir leid, Dad, aber ich kann das nicht.“
In diesem Moment bemerkte er, dass sein Vater mit ihm zum kleinen, eingezäunten Friedhof gegangen war, wo auch Mary ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Das war zu viel für ihn und er fand es nicht fair, jetzt auf diese Weise an Stevies Mutter erinnert zu werden. Das einfache Holzkreuz mit ihrem Namen war ein schwarzer Schatten in der Dunkelheit. Ihn befiel eine Verzweiflung, von der er gehofft hatte, sie für immer überwunden zu haben.
„Geh zu Grace“, drängte Jakob.
Jem schüttelte wortlos den Kopf. Er ließ seinen Vater stehen und machte sich auf den Weg zurück zu seinem leeren Haus mit den dunklen Fenstern. So sehr er seine Eltern liebte, es fiel ihm doch schwer nachzuvollziehen, dass sie tatsächlich an Manitus, an übernatürliche Wesen glaubten. Auch mit dem zweiten Gesicht der alten Grace konnte er nichts anfangen. Sein Volk besaß seit jeher die Fähigkeit, durch Träume zu sehen, er aber schien diese Fähigkeit verloren zu haben, seit er sich vom Geisterglauben seiner Vorfahren distanziert hatte.
Es gab Träume, die konnten schnell zu Alpträumen werden und manchmal standen Traditionen einem auch im Weg. Er war in eine Welt hineingeboren, in der die Dinge immer unübersichtlicher und komplizierter wurden. Und obwohl er stolz darauf war, ein Cree zu sein, widerstrebte es ihm, Halt im Geisterglauben zu suchen. Er hatte einen anderen Weg eingeschlagen, einen, der zwischen den beiden Welten verlief.
Bisher hatte es so ausgesehen, als ob das für einen wie ihn der richtige Weg war. Doch nun war alles durcheinander. Seine Mutter und sein Vater drängten ihn, sich spirituellen Beistand zu holen und die Geister zu befragen. Aber noch sträubte Jem sich gegen die Vorstellung, dass es an der Zeit sein könnte, umzudenken.
Jem betrat Stevies Zimmer, machte Licht und sein Blick streifte durch den Raum. Wie konnte alles nur so unverändert aussehen? Warum gab es keine einzige Spur, keinen einzigen Hinweis, dem er folgen konnte? War es möglich, dass die Angst, Stevie zu verlieren, ihn blind gemacht hatte? Jem nahm sich eins von Stevies getragenen T-Shirts, kroch in den niedrigen dunklen Bau aus Stühlen und Decken und hockte sich auf den Boden.
Was hatte Stevie hier drinnen bloß gemacht? Hatte er dagesessen und auf das Flüstern von Geheimnissen in der Dunkelheit gewartet?
Jem presste die Nase in das Hemd seines Sohnes und atmete den vertrauten Geruch ein. Vor seinen Augen sah er das winzige schreiende Bündel, das die Hebamme ihm vor neun Jahren in den Arm gelegt hatte. Der schwarze Flaum auf dem Kopf seines neugeborenen Sohnes, sein rotes, entrüstetes Gesicht, der zahnlose Gaumen. Die Energie, die in ihm steckte. Und Mary in ihrem Bett, erschöpft, aber so glücklich, wie er sie noch nie erlebt hatte.
Wenig später hatte es Komplikationen gegeben und die Hebamme hatte einen Arzt gerufen. Als der Krankenwagen eintraf, war Mary schon bewusstlos gewesen, aber das hatte Jem gar nicht richtig begriffen. Er hatte geglaubt, die Müdigkeit hätte sie übermannt. Alles war so schnell gegangen, er hatte sich nicht von ihr verabschieden können. Als man ihm sagte, dass sie gestorben war, weil durch ein gerissenes Blutgefäß Fruchtwasser in ihren Blutkreislauf gelangt war, lag Stevie schlafend an seiner Brust.
Einziger Trost für ihn war, dass Mary nicht geahnt haben konnte, dass sie sterben würde. Was mit ihr geschehen war, hatte sie noch weniger begriffen als er. „Ist er nicht wunderschön?“, waren die letzten Worte, die sie zu ihm gesagt hatte.
„Stevie“, flüsterte Jem in die muffige Düsternis der Höhle. „Wo bist du, mein Sohn? Wo bist du?“
4.
Die Stadt Thunder Bay am Westufer des Lake Superior war erst Anfang der siebziger Jahre entstanden, als man beschlossen hatte, die Orte Fort Williams und Port Arthur zusammenzulegen. Fort Williams, einst Umschlagplatz für Trapper und Pelzhändler aus dem Norden, war 1892 zum ersten Mal als Ort erwähnt worden und Port Arthur, benannt nach Queen Victorias drittem Sohn, etwa zur selben Zeit.
In den Sommermonaten wurde im alten Fort Williams von Studenten in originalgetreuen Kostümen die Vergangenheit nachgestellt. Canyon hatte das Spektakel schon einige Male gesehen und fragte sich jedes Mal, wie es wohl wirklich gewesen sein mochte, als sich die ersten Waldläufer unter die Indianer mischten und später als Siedler hier niederließen. Als französische Pelzhändler die Flüsse in Richtung Norden befuhren, den ganzen Winter über Fallen stellten und dann, wenn das