Die Suche. Antje Babendererde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Antje Babendererde
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738070446
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Uferpromenade entlang, wo um diese Zeit noch reges Treiben herrschte. Die milde Abendluft hatte die Menschen aus den Häusern getrieben. Pärchen, die Hand in Hand gingen, Familien mit Kindern und Singles, die ihre Hunde ausführten. Der Sleeping Giant, eine dem Hafen vorgelagerte Halbinsel, deren langgezogene Silhouette an einen ausgestreckten Riesen erinnerte, lag in silbrig grauem Dunst.

      „Kennen Sie die Geschichte vom schlafenden Riesen?“, fragte Canyon.

      „Ja, natürlich. Es gibt verschiedene Varianten und ich erzähle sie den Kindern im Geschichtsunterricht. Das gehört zum Lehrplan.“

      „Vermutlich ist es eine dieser Indianerlegenden, die besagt, dass der weiße Mann nichts als Unheil bringt, nicht wahr?“

      „Nicht unbedingt“, entgegnete er. „Nanna Bijou, der Geist des Tiefen Wassers, hat den Ojibwa den Weg zu einer reichen Silbermine gezeigt, als Belohnung für ihren Fleiß, ihr friedvolles Leben und ihre Güte. Er beschwor sie, ihr Geheimnis niemals zu verraten, sonst würde er zu Stein. Dabei hätte er wissen müssen, dass Reichtum Macht nach sich zieht und Macht die Menschen verändert. Nicht der weiße Mann ist schuld, dass Nanna Bijou jetzt versteinert da drüben in der Bucht liegt. Das Silber ist schuld. Die Gier der Menschen danach.“

      „Es geht also immer um Dinge, die wir haben wollen und die wir nicht bekommen können.“

      „Sehr oft ist es so.“

      Sie stiegen in seinen weißen Jeep Cherokee. Der Wagen war verbeult und zerkratzt, aber sauber. Jem hatte ihn gewaschen, bevor er in die Stadt gekommen war. Canyon registrierte es mit einem Lächeln.

      Sie wies ihm den Weg durch die Häuserschluchten und zehn Minuten später parkte er vor dem roten Backsteingebäude, in dem sie wohnte. Es war ein großes Mietshaus, das vor rund neunzig Jahren auf einem Hügel erbaut worden war. Nichts Besonderes, aber der Reiz dieser Wohngegend bestand darin, dass sie grüner war als das Zentrum von Thunder Bay.

      Bevor sie in den Hausflur traten, warf Jem einen Blick auf die Fassade. Es fiel ihm immer noch schwer sich vorzustellen, wie man in so einem steinernen Haus leben konnte, dicht an dicht mit anderen Menschen, die man vielleicht gar nicht mochte. Der Geruch und die Enge im Treppenhaus waren ihm unangenehm. Eine Mischung aus Tabakqualm, Reinigungsmitteln und Essensgerüchen hüllte ihn ein.

      Nachdem sie die vielen Stufen bis hinauf in die dritte Etage gestiegen waren, standen sie endlich vor Canyons Haustür. Canyon kramte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und er beobachtete sie dabei, merkte, wie nervös seine Anwesenheit ihn machte.

      Mit Sicherheit gehörte es nicht zu den üblichen Gepflogenheiten, dass Mitarbeiter des Jugendamtes die Ermittlungen in ihrem eigenen Wohnzimmer durchführten. Er sollte nicht hier sein, sollte nicht reden mit dieser Frau, die er überhaupt nicht kannte und von der er nicht wusste, ob er ihr trauen konnte. Er hätte nicht darauf hören sollen, was seine Mutter ihm geraten hatte. Er hätte seinen Traum einfach ignorieren sollen, wie all die anderen merkwürdigen Träume zuvor.

      Endlich hatte Canyon ihren Schlüssel gefunden und öffnete die Tür. „Gehen wir in die Küche“, schlug sie vor. „Dann können wir uns unterhalten, während ich etwas zu essen vorbereite.“

      Jem folgte ihr durch den kleinen Flur in eine winzige, helle Küche, die modern und praktisch eingerichtet war. „Sie leben allein?“, fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.

      Er sah sich um. Tontöpfe mit frischen Kräutern standen auf den Fensterbänken. Es gab ein Sortiment blinkender Edelstahltöpfe und verschieden großer Pfannen, die - nach Größe sortiert - über dem Herd hingen. Canyon Toshiro kochte offensichtlich gern. Vielleicht konnte sie es auch. Auf einmal wurde ihm bewusst, wie hungrig er war. Seit diesem dünnen Honigtoast mit Kaffee am Morgen hatte er nichts mehr gegessen.

      „Ja“, antwortete sie, „seit einem Jahr.“

      Canyon begann Zwiebeln zu schälen und zu schneiden. Er sah, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Er hoffte, sie weinte nur wegen der Zwiebeln und nicht aus einem anderen Grund.

      „Was ist passiert?“

      „Er hat mich nicht respektiert.“

      Jem nickte. Weiter nachzuhaken, wäre unhöflich gewesen und es interessierte ihn auch nicht. „Kann ich irgendwie helfen?“ Auf einmal kam er sich überflüssig vor.

      Canyon überließ ihm die Zwiebeln und entschuldigte sich für einen Moment. Als sie in die Küche zurückkam, bereitete sie einen herzhaften Salat aus Tomaten, Eissalat, Oliven und Schafskäse.

      „Essen Sie überhaupt Oliven und Schafskäse?“

      Jem blickte in die Schüssel, in der beides bereits vermengt war mit den anderen Zutaten. „Ich werde es versuchen“, erwiderte er mit todernstem Gesicht.

      Canyon lachte. In diesem Moment ahnte sie, dass sie ihn mochte, obwohl sie sich von ihm nicht dasselbe erhoffen durfte. Er war der erste Mann, den sie in ihr Apartment gelassen hatte, abgesehen von Charlie Wilson, Sarahs Ehemann - und den Möbelträgern. Aus Erfahrung wusste sie, dass die eigene Wohnung eine Menge über die Person verriet, die darin lebte. Was auch immer sie veranlasst hatte, Jem Soonias zu sich einzuladen, nach diesem Abend würde er mehr über sie wissen, als ihr vielleicht lieb war. Aber vielleicht erfuhr sie ja auch einiges über ihn.

      „Worüber wollen Sie mit mir sprechen, Jem?“, fragte sie, während sie Paprika und Zucchini wusch.

      „Wie sind Sie eigentlich zu Ihrem ungewöhnlichen Vornamen gekommen?“

      Canyon sah ihn schräg von der Seite an. „Um das herauszufinden, haben Sie doch nicht den weiten Weg in die hässliche Stadt gemacht, oder?“

      Sarah hatte ihr das mal erzählt: Indianer kamen nie direkt zur Sache. Selbst wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatten, redeten sie erst einmal über andere, belanglose Dinge und man musste Geduld aufbringen. Nun - sie hatte Zeit.

      „Nein.“ Er spülte sich die Hände unter dem Wasserhahn und trocknete sie an seiner Hose ab. „Aber ich würde gern ein wenig über Sie wissen, bevor ich Ihnen mehr über mein Leben erzähle, als ich es vernünftigerweise tun sollte.“

      „Ich verstehe.“ Enttäuscht dachte Canyon, dass es also kein wirkliches Interesse war, nur Neugier oder eine Art Absicherung. Dennoch erzählte sie ihm die Geschichte. „Als meine Mutter mit mir schwanger war, besuchten meine Eltern den Grand Canyon in Arizona. Sie waren überwältigt von seiner atemberaubenden Schönheit, dieser unfassbaren Weite, den verrückten Farben. Als ich geboren wurde, bekam ich diesen seltsamen Namen.“

      Canyon gab die Zucchini- und Paprikastreifen in die Pfanne. Sie überlegte, ob sie es bei dieser Antwort bewenden lassen sollte. Doch dann fügte sie hinzu: „Als Kind mochte ich meinen Namen nicht und bestand darauf, dass man mich Canny rief. Inzwischen habe ich mich an meinen Namen gewöhnt. Ich glaube, es gibt schlimmere.“

      Sie lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Ihr Vater hatte ihr die Geschichte, wie sie zu ihrem Vornamen gekommen war, oft erzählt. Und nun musste sie an ihn denken, voller Trauer und einer Art taubem Schmerz, der sie jedes Mal halb blind machte, wenn er sie unerwartet überfiel.

      Zum Glück konnte Jem ihr Gesicht nicht sehen, weil sie den Kopf neigte und eine glatte Haarsträhne, die aus der Spange gerutscht war, ihr Gesicht verdeckte.

      „Ich finde, es ist ein außergewöhnlicher Name mit einer schönen Geschichte“, sagte er. „In unserem Volk gab man sich früher auch Namen von Tieren, Pflanzen oder bestimmten Orten. Jetzt sind unsere Namen weiß und langweilig.“

      „Nun, Jem ist auch nicht gerade gewöhnlich.“ Canyon hatte sich wieder unter Kontrolle und sah ihn an.

      Er zuckte die Achseln. „Ursprünglich sollte ich Jim heißen. Aber meine Mutter hat nie viel von Schule gehalten. Sie behauptet, in der weißen Schrift wohne die Lüge. Mit einigen Buchstaben stand sie damals noch auf Kriegsfuß und als sie nach meiner Geburt der Hebamme meinen Namen aufschreiben sollte, wurde aus dem i ein e und aus Jim eben Jem.“

      „Sind Sie deshalb Lehrer geworden?“