Auch in ihren Adern floss Mischblut. Sie war die Tochter eines japanischen Vaters und einer Mutter französisch-indianischer Abstammung, wobei sich das Erbgut ihres Vaters nur spärlich durchgesetzt hatte. Der asiatische Einschlag in ihrem Gesicht war zwar unverkennbar: breite Wangenknochen, Augen, die sich in den Winkeln leicht verengten und kräftiges schwarzes Haar, aber ebenso gut hätte sie auch ein Inuitabkömmling sein können. Es war ihr Name, der das Rätselraten meistens beendete.
Nach dem College war Canyon aus Vancouver nach Thunder Bay gezogen und hatte die Stadt seither kaum verlassen, höchstens drei oder vier Mal zu ein paar kleinen Ausflügen in die umliegende Gegend. Alles Fremde machte Canyon nervös. Sie brauchte ihre Ordnung, ihren Rhythmus. Den hatte sie gerade erst wiedergefunden, nachdem sie sich endlich von Gordon getrennt hatte und in dieses kleine Apartment gezogen war. Gordon Shaefer, Rechtsanwalt mit einer vielversprechenden Karriere vor sich. Sprössling einer angesehenen Familie in Thunder Bay, deren männliche Mitglieder seit vier Generationen Anwälte waren.
Gordon war ein gut aussehender, immer korrekt gekleideter Mann, um den Canyon von anderen Frauen beneidet worden war. Hinter vorgehaltener Hand hatten sie sich gefragt, was er an ihr fand: an einer kleinen Halbjapanerin, die weder besonders schön noch extravagant war. Was keine von ihnen wusste: Shaefer war ein Mann, der sehr jähzornig werden konnte und in solchen Augenblicken die Kontrolle über seine körperlichen Kräfte verlor.
Als Canyon ihn vor fünf Jahren kennenlernte, faszinierte Gordon der asiatische Einschlag in ihrem Gesicht. Er fand ihre hohen Wangenknochen und die schrägen Augen exotisch und attraktiv. Meine kleine Geisha, hatte er sie gern genannt und sie hatte sich geschmeichelt gefühlt. Dass er, wenn er wütend war, heftiger reagierte als andere Menschen, hatte sie zwar registriert, aber sie war so verliebt gewesen, dass sie gar keine Bedenken aufkommen ließ.
Gordon bereute schnell und war dann immer besonders zärtlich und aufmerksam. Er machte teure Geschenke und beschwor seine Liebe zu ihr. Da war Canyon schon so abhängig von seiner Zuneigung und der körperlichen Erfüllung, die sie bei ihm fand, dass sie ihm immer wieder glaubte.
Aber dann war er eines Abends auf einer Party von einer hübschen jungen Journalistin gefragt worden, von welchem Eskimovolk seine Freundin eigentlich abstamme. Gordons wütende Verlegenheit war Canyon noch gut im Gedächtnis. Von da an fand er ihr Gesicht zu breit und zu flach, ihre Beine nicht lang genug und sowieso: beim Sex war sie verklemmt und zögerlich und viel zu still.
Das alles sagte er ihr zwar nicht ins Gesicht, denn er hielt sich für einen außerordentlich kultivierten Menschen, aber Canyon entdeckte Gordons Vorbehalte in seinen Blicken und seinen Äußerungen, die er anderen gegenüber machte.
Der Gedanke, ihn zu verlieren, war ihr unerträglich. Sie klammerte sich an ihn, was ihn reizbar machte. Eines Tages schlug er sie. Es war das erste Mal. Gordon war klein, aber kräftig und sie wog nur fünfzig Kilo. Der Schlag warf sie gegen die Wand. Sie taumelte und stürzte. Das Blut, das aus ihrer Nase strömte, ernüchterte ihn. Er kümmerte sich, stoppte die Blutung, kühlte ihr Gesicht, bereute zutiefst.
Und Canyon verzieh ihm.
Die nächsten Tage meldete sie sich krank. Ihren Kollegen aus dem Kinderheim, in dem sie damals arbeitete, erzählte sie, dass sie unglücklich gestürzt wäre. Nach diesem Zwischenfall ging es mehrere Monate gut zwischen ihnen und Canyon fasste neuen Mut. Sie wechselte den Job und begann auf dem Jugendamt zu arbeiten. Das war seit dem Abschluss ihres Studiums ihr Ziel gewesen.
Die ersten Wochen waren schwer für sie. Was sie als Mitarbeiterin des Jugendamtes erlebte, machte ihr zu schaffen und zu Hause konnte sie nicht darüber reden, weil sie fürchtete, Gordon könne sich angesprochen fühlen, wenn sie von gewalttätigen Männern und ihren Opfern erzählte. Obwohl sich Sarah Wilson, ihre ältere Kollegin, von Anfang an mit großer Herzlichkeit um sie kümmerte, blieb Canyon verschlossen und misstrauisch. Sie konnte und wollte nichts von sich preisgeben.
Eines Tages, sie und Gordon waren auf der Geburtstagsparty eines seiner Kollegen, erwischte sie ihn in einer dunklen Ecke, wie er eine blonde Frau umarmte und küsste. Schockiert stellte sie ihn vor allen anderen zur Rede und floh hinterher nach Hause. Sie weinte sich in den Schlaf, unglücklich und doch voller Hoffnung, dass er ihr vergeben möge.
Als Gordon einige Zeit später in ihre gemeinsame Wohnung kam, war er betrunken und raste vor Wut über die Demütigung, für die er sie verantwortlich machte. Er würgte Canyon und nötigte sie. Es war ein gewaltsamer, brutaler Akt. Erst als sie in ihrer Todesangst nach Luft japste, ließ er von ihr ab. Diesmal entschuldigte er sich nicht. Gordon Shaefer war stumm vor Entsetzen über das, was er getan hatte. Fluchtartig verließ er die Wohnung und ließ sie allein zurück.
In dieser Nacht begriff Canyon, dass sie sich von Gordon trennen musste, wenn sie ihr Leben in den Griff bekommen wollte. Sie wählte die Nummer ihrer Kollegin und zehn Minuten später stand Sarah vor der Wohnungstür, um Canyon mitzunehmen. Sarah und ihr Mann Charles bestanden darauf, Gordon anzuzeigen, aber Canyon ließ sich nicht dazu bewegen. Schließlich waren die beiden bereit, von einer Anzeige abzusehen, unter der Bedingung, dass Canyon zu ihnen zog, so lange, bis sie eine neue Wohnung gefunden hatte.
Die nächsten Tage begleitete Sarah Canyon auf Schritt und Tritt. Sie holten ihre Sachen aus der Wohnung und Sarah vermittelte ihr das Apartment, in dem sie jetzt lebte. Gordon machte sich nicht die Mühe, Canyon nachzulaufen. Diesmal hatte er die Grenze überschritten und er war klug genug zu wissen, dass er sein Versprechen, ihr nie wieder weh zu tun, nicht einhalten konnte.
Das war jetzt ein Jahr her. Seitdem war Canyon Gordon zwei- oder dreimal begegnet. Das letzte Mal bei einem Mozartabend des Thunder Bay Symphony Orchestra im Auditorium, einer modernen Konzerthalle, die über tausend Menschen Platz bot. So viele Menschen und doch liefen sie einander über den Weg, er mit einer blonden, sehr elegant gekleideten jungen Frau an seiner Seite. Sie hatten einander angesehen und gegrüßt und sie hatte nichts empfunden außer Mitleid und Bedauern. Sie hatte ihre Liebe an einen Idioten vergeudet, und das vier Jahre lang.
Diese Tatsache änderte nichts an einer anderen: Canyon fühlte sich einsam. Es gab Momente, in denen sie Gordon vermisste. Er hatte ihr eine Art Sicherheit gegeben und in seinen guten Zeiten war er ein aufmerksamer Liebhaber gewesen. Unter seinen geduldigen Händen hatte sie ihren ersten Höhepunkt erlebt. Sie erinnerte sich noch gut an jene Nacht mit ihm, in der erwartungsgemäß alles schiefgegangen war. Doch statt aufzugeben, war sein Interesse an ihr auf unerklärliche Weise gewachsen.
Seine Hartnäckigkeit hatte Canyon zu der Annahme verleitet, dass er sie wirklich lieben würde. Gordon hatte ihr Geschenke mitgebracht, war zärtlich gewesen und hatte sie nicht bedrängt. In dieser Zeit hatte sie gelernt, dass Zärtlichkeiten nicht zwingend mit dem Eindringen in ihren Körper verbunden sein mussten. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hatte sie wieder Vertrauen zu einem Mann fassen können.
Gordon Shaefer hatte sie aus ihrem dunklen Gefängnis geführt, nur um sie später dorthin zurückzustoßen. Nun war es für sie noch schwerer, mit ihrem eigenen Körper Freundschaft zu schließen. Weil er Bedürfnisse hatte, ihr Kopf aber sagte, dass es schmerzhaft war, diesen Bedürfnissen nachzugehen. Sie wollte nicht lieben, sie wollte nur vergessen.
Canyon ließ sich auf ihre Stoffcouch fallen und stellte den Fernseher an. Mit der Fernbedienung zappte sie einmal durch alle Programme und stellte das Gerät wieder aus. Sie ging ins Bad und nahm eine Dusche, danach hockte sie sich wieder auf ihre Couch und blätterte in der Tageszeitung. Sie sah nach, ob es vielleicht einen guten Film im Kino gab. Am besten eine Komödie.
Es lief „Die Mumie II“, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen hinzugehen. Sie konnte sich zu überhaupt nichts durchringen.
Mit angezogenen Beinen, die Arme um die Knie geschlungen, saß sie da und wiegte sich in monotonem Rhythmus vor und zurück. Dass passierte ihr manchmal, wenn die Gedanken sich vom Körper lösten. Wenn sie zurückglitt in die Vergangenheit, ohne dass sie es wollte. Wenn aus dem Heute das Gestern wurde. Dann saß sie wieder in diesem Schrank, von Dunkelheit umschlossen, wiegte ihren mageren