Sarah Wilson war eine untersetzte Rothaarige Ende Dreißig, mit breiten Hüften und einer Neigung zur Leibesfülle. Sie naschte für ihr Leben gern und man sah ihr nicht an, dass sie dreimal in der Woche joggte. Aber Canyon wusste es, denn manchmal liefen sie gemeinsam auf der Uferpromenade des Lake Superior.
„Oh, einfach Klasse die Küche dort“, schwärmte Sarah. „Das Mousse au Chocolat war köstlich.“ Genussvoll verdrehte sie die Augen.
Canyon lachte kopfschüttelnd. Sarah, mit der sie sich ein Büro im Gebäude des Sozialamts teilte, war eine Frohnatur. Schon seit vielen Jahren kümmerte sie sich aufopferungsvoll um Kinder, die zu Fällen des Jugendamtes geworden waren. Missbrauch, Verwahrlosung, seelische und körperliche Misshandlungen. Die Kindheit konnte auch eine Hölle sein.
Canyon, der die meisten Fälle so nahe gingen, dass sie Mühe hatte, ihr seelisches Gleichgewicht nicht zu verlieren, wunderte sich jedes Mal aufs Neue, wie Sarah diese Tragödien ertrug. Woher sie die Kraft nahm, trotz des vielen Leids ein fröhlicher Mensch zu bleiben.
Als Canyon vor anderthalb Jahren als Neuling ins Jugendamt kam, nahm Sarah sie unter ihre Fittiche und inzwischen hatte sie eine Menge gelernt von ihrer erfahrenen Kollegin: Wie man Ruhe bewahrt, obwohl man seinem Gegenüber am liebsten an die Kehle gehen würde. Wie man sich mit einer Fünfjährigen über abnorme Sexualpraktiken unterhielt, ohne dabei in Tränen auszubrechen und wie man einer Autopsie beiwohnt, ohne hinterher Alpträume zu bekommen. Dass es ratsam war, den Leuten immer einen Ausweg offen zu lassen, weil manch einer, in die Enge getrieben, zu den merkwürdigsten Reaktionen fähig war.
Meist gelang es Canyon, ihren Job auf diese Weise in den Griff zu bekommen. Doch manchmal, wenn ein Fall sie so sehr beschäftigte, dass sie Mühe hatte, wieder Boden unter den Füßen zu spüren, da fragte sie sich, ob sie diesen Beruf nur deshalb gewählt hatte, damit ihr eigenes Leid an Bedeutung verlor.
„Und wie war dein Ausflug in die Wildnis?“, fragte Sarah. Von schlechtem Gewissen ganz offensichtlich keine Spur.
„Du hättest mich vorwarnen können“, erwiderte Canyon vorwurfsvoll. „Ich war falsch angezogen.“
„Moskitos?“ Sarah verzog mitleidig das Gesicht, doch sie hatte dabei ein spöttisches Funkeln in den blauen Augen.
Canyon musste lachen. Seit jener Nacht, als Sarah sie aus Gordons Wohnung geholt hatte, war sie ihre beste Freundin und Vertraute. Sie war der einzige Mensch - abgesehen von ihrer Therapeutin - dem sie von ihrer Vergangenheit erzählt hatte. Das war ein großer Vertrauensbeweis, aber bei Sarah Wilson waren ihre Geheimnisse sicher aufgehoben.
Sollte Robert Lee Turner, der in Canyon vernarrt war, je von ihrem Kindheitstrauma erfahren, würde er ihr Befangenheit bescheinigen, sie in eine andere Abteilung versetzen und nicht mehr mit Fällen von Kindesmisshandlung betrauen. Und dabei hatte Canyon gerade zu diesen Kindern einen besonderen Draht, weil sie sich in sie hineinversetzen konnte.
Durch ihr beinahe magisches Gespür, hatte sie schon viele Male vollkommen verängstigte und verstörte Kinder zum Reden gebracht. Sie vertrauten Canyon, als ob sie fühlen könnten, dass sie jemanden vor sich hatten, der dasselbe durchgemacht hatte wie sie.
„Schwarzfliegen“, antwortete sie, „Morast und ...“
„Und was?“ Sarah zog fragend die Stirn in Falten.
„Indianer.“
Seufzend lehnte sich Sarah ihren Drehstuhl zurück. „Na komm schon, Can, du hattest schließlich nicht das erste Mal mit ihnen zu tun. Sie gehören zu unseren besten Kunden.“
„Ja ja, ich weiß. Aber die Ojibwa da draußen im Reservat sind irgendwie anders.“
„Anders? Klar sind sie anders. Ihre Welt ist eine andere. Die meisten von ihnen gehen auf die Jagd. Sie sind freie Menschen, obwohl sie im Reservat leben. Noch vor hundert Jahren durchstreiften sie als räuberische Nomaden die Wälder. Bis man sie zwang, in dauerhaften Siedlungen zu leben und ihr Dasein mit staatlichen Fürsorgeschecks zu fristen.“
„Gibt es denn gar keine Jobs für sie?“, fragte Canyon. „Ich kann mir das nicht vorstellen.“
„Schon“, erwiderte Sarah. „Wenn sie sich bereitfinden, gefährliche und gesundheitsschädigende Arbeiten im Straßenbau, den Erzminen oder der Holzwirtschaft zu übernehmen, dann haben sie Aussicht auf einen Job. Doch der überwiegende Teil von ihnen kommt nur schlecht oder überhaupt nicht mit den unwürdigen Arbeitsbedingungen zurecht und ich kann es ihnen nicht verdenken.“ Sie zuckte die Achseln. „Trotz allem geht es den Indianern im Reservat besser als ihren Stammesbrüdern hier in der Stadt, wo der Alkohol leichter zu haben ist. Und im Übrigen sind es Cree, mit denen du es diesmal zu tun hast. Dog Lake ist ein Cree Reservat.“
„Tatsächlich“, bemerkte Canyon nachdenklich. „Ich glaube nicht, dass das für den Fall relevant ist. Wie dem auch sei, ich fühlte mich irgendwie ... fehl am Platz.“
Sarah hatte recht. Den Stadtindianern war von ihrer Kultur kaum etwas geblieben. Abgeschnitten von ihrem Land und ihrer Gemeinschaft, verloren sie ihre Identität und ihren Stolz. Wenn Canyon in Thunder Bay mit Indianern oder Mischlingen zu tun hatte, wurde sie oft mit großer Armut, Alkohol und Verwahrlosung konfrontiert. Diese Menschen taten ihr leid, weil sie ihr Leben nicht in den Griff bekamen und die nächste Generation in einen Kreislauf aus Resignation und Hoffnungslosigkeit hineingeboren wurde.
Als sie in dieses Reservat gefahren war, hatte sie Ähnliches erwartet und war auf eine Welt gestoßen, die ihren Vorstellungen widersprach. Dass sie die Menschen, die dort lebten, nicht einordnen konnte, hatte sie verunsichert und unprofessionell agieren lassen.
Jem Soonias war ein Mann, der sein Leben sehr wohl im Griff hatte. Jedenfalls, bis sein kleiner Sohn auf rätselhafte Weise verschwunden war.
„Na ja“, räumte Sarah ein, „die Wildnis macht uns Stadtmenschen Angst. Wir kommen uns verloren vor in den dunklen Wäldern, während die Indianer sich dort zu Hause fühlen. Wir fürchten uns vor allem, was da kriecht und krabbelt, während sie jede noch so kleine Spinne als Bruder betrachten.“
„Ja, schon möglich. Aber der Vater des Jungen war unfähig, meinem Blick zu begegnen. Würdest du das nicht für bedenklich halten?“
„Nicht unbedingt. Das ist ihre Art, Can. Sie vermeiden längeren Augenkontakt, um ihr Gegenüber nicht zu bedrängen.“
„Bedrängen?“, rief Canyon entgeistert. „Jem Soonias war nicht nur völlig unkooperativ, er hat mich total abblitzen lassen.“
„Was hast du denn erwartet?“
„Etwas mehr Entgegenkommen. Schließlich will ich ihm seinen Sohn nicht wegnehmen, nur herausfinden, wo er vielleicht sein könnte.“
„Jem Soonias hat schlechte Erfahrungen mit dem Jugendamt gemacht, vielleicht war er deshalb so abweisend. Und außerdem: Das Kind zu suchen, ist Sache der Polizei, Canyon. Lass Inspektor Harding seine Arbeit machen und kümmere dich um die Aktenberge, die auf deinem Schreibtisch liegen.“
Canyon richtete sich auf. „Wo ist die Akte über den Fall Soonias eigentlich abgeblieben?“
Sarah wies mit ihrem Kuli auf einen Ordner, der auf Canyons Schreibtisch lag. „Im Übrigen erinnere ich mich noch sehr gut an den Fall. Ich war ein Frischling wie du und damals war es noch ungewöhnlich, dass sich ein Indianer in einem Sorgerechtsfall einen Anwalt nimmt.“ Sie klopfte mit dem Kuli gegen ihre schiefen Schneidezähne. „Wir hatten vor, den Jungen in einer indianischen Pflegefamilie unterzubringen. Er war ein winziger Säugling und niemand traute Jem Soonias zu, dass er das alleine packt. Aber er hatte einen guten Anwalt. Er bekam das Sorgerecht für den Jungen und hat ihn schließlich adoptiert. Ein paar Mal war noch jemand von uns draußen im Reservat, um nach dem Rechten zu sehen. Es hat keine Beanstandungen gegeben.“
„Was ist mit dir?“, fragte Canyon. „Warst du damals auch draußen in Dog Lake gewesen.“
Sarah