Die Anzahl der Journalisten und Fernsehteams, die vor dem Hotel verweilten, hatte sich mindestens verdoppelt. Sämtliche Fotografen drückten auf den Auslöser und gleichzeitig warfen die Reporter von Carstheim ihre Fragen entgegen.
„Für eine habe ich Zeit. Sie hier vorne.“ Von Carstheim zeigte auf eine Reporterin, die andauernd mit den Fingern schnippte.
„Was denken Sie, wird der Ministerpräsident in Bezug auf die Volksabstimmung unternehmen?“
Von Carstheim hätte sein Familienschloss auf diese Frage verwettete.
„Nicht was der Ministerpräsident sagt, sondern das, was die Bürgerinnen und Bürger von der Sezession halten, ist wichtig. Hierzu möchte ich mir eine Anmerkung erlauben: Es wird nicht mehr besser werden! Die Vergangenheit hat bewiesen, dass Europa für die einfachen Arbeiter am Ende ist. Die deutsche Steuer- und Schuldengeschichte spricht eine eindeutige Sprache. Der Süden trägt mittlerweile nicht nur den Länderfinanzausgleich, sondern auch etliche europäische Rettungsschirme. Die seit Jahrzehnten ansteigende Anzahl von Hartz IV Empfängern ist ein Beweis dafür, dass die verarmten Bürger alleingelassenen werden. Zehn bis zwölf Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter stehen in diesem Land ohne Lohn und Brot da. Die Situation in Europa und Deutschland ist dramatisch. Die rechten Populisten breiten sich aus und Erklärungen, warum es so ist, haben alle in Berlin. Aber sie präsentieren keine Lösungen. Wir hingegen sagen ihnen, wie man alles noch zum Guten wenden kann. Lesen Sie unsere Veröffentlichungen zur Zukunft des Südens. Wir werden in den Freistaaten umsetzbare Konzepte vorlegen. Und fallen Sie um Gottes willen nicht auf die populistischen Ablenkungsmanöver der Regierung rein. Die Diskussion um den Euro ist ein gutes Beispiel. Ich bin kein Freund des Euros. Er aber trägt die geringste Schuld. Schuld an der Verarmung hat alleine die versagende Politik. Sie ist konzeptionslos und hält uns nur hin. Die Währung ist hierbei zweitrangig. Den Bürger interessiert es nicht, ob er Schulden in Euro oder D-Mark zurückzahlen muss. Und Europa lebt seit zwei Generationen von Schulden. Anstatt andere Länder oder den Euro für die Misere verantwortlich zu machen, hätten Brüssel und Berlin dafür sorgen sollen, dass die Wirtschaft der Länder auf breiter Basis gesundet.“ Hätte von Carstheim in diesen Sekunden von den Reportern verlangt, dass sie sich ausziehen und vor einen Bus werfen sollten. Sie hätten es getan. Jeden überkam das Gefühl vollkommenen Vertrauens. Von Carstheims Aura und sein Tonfall legten sich wie eine warme Decke, in Winternächten, über sie. Sie fühlten sich emotional geborgen.
„Danke für Ihre Geduld. Doch ich habe es eilig, denn es gibt noch viel zu erledigen. Kommen Sie gut nach Hause.“
Von Carstheim winkte in die Kameras und in Begleitung seiner Geschwister lief er zum bereitgestellten BMW.
„Ich fahre.“ Sara schnellte vor und nahm von Carstheim den Autoschlüssel ab.
„Fahr du nur.“ Von Carstheim drehte um und ging zur Beifahrertür. „Im Gegenzug besorgt ihr mir den Namen des jungen Anwalts.“
„Muss das sein?“ Friedrich blieb am Kofferraum zurück.
„Je früher du einen Feind vernichtest, desto leichter ist es. Heute kostet es mich einen Anruf. Wer weiß, was noch aus ihm wird.“
„Seit wann leidest du unter Verfolgungswahn?“
„Kein von Carstheim lässt sich ungestraft beleidigen.“
„Amen.“ Friedrich stieg in den Fond des BMW.
Der Innenminister feuerte eine wütende Tirade nach der anderen ab. Der hochmütige, verwöhnte Adelsspross, wie er sich ausdrückte, hatte ihn auf die Palme gebracht.
„Er besticht die Menschen, um König von Süddeutschland zu werden. Was halten Sie von ihm?“, fragte er, während Dana und er durch die Hotelhalle schritten.
„Er ist undurchsichtig, scheint aber an das zu glauben, was er sagt.“
„Was nichts daran ändert, dass er ein versnobter Milliardär ist, der sich zum Kaiser krönen will.“
„Eitelkeit ist bestimmt nicht seine Antriebsfeder.“
„Sicher nicht?“, fragte der Innenminister voller Abneigung. Dass Dana für seinen neu gewonnenen Erzfeind eine Kerbe schlug, bewies ihm, dass der einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte. Nichts worüber er sich freuen konnte. „Von Carstheim hat sich durch einen einzigartigen Egoismus ausgezeichnet. Das Kartellamt überwacht ihn seit Jahren. „Die Gruppe“ hatte keine Skrupel, Nevrotek zu zerschlagen. 5 000 Menschen landeten auf der Straße.“
„Haben die meisten Angestellten nicht einen Job bei der Bühler Firmengruppe erhalten?“
„Nur die halbe Wahrheit“, sagte der Innenminister. Dana hatte aber nicht ganz Unrecht. Die Übernahme von Nevrotek durch die Bühler-Firmengruppe, hatte aber trotzdem für einen Aufschrei in der Geschäftswelt gesorgt. Der Pariser Firmenvorstand hatte von Carstheim vorgeworfen, dass er nur durch illegal erworbenes Insiderwissen die in finanziellen Schwierigkeiten steckende Firma aufkaufen konnte. TGV und Nevrotek hatten an der Entwicklung einer revolutionären Magnetschiene gearbeitet. Und nur ein halbes Jahr nach der Zerschlagung von Nevrotek hatte Bühler Magnet vollmundig bekannt gegeben, dass der Entwicklungsabteilung ein Durchbruch in der Schienentechnologie gelungen sei.
„Es stimmt zwar, dass zwei Drittel der Jobs erhalten wurden. Das Kartellamt bemängelte aber die Monopolstellung, die Bühler-Magnet dadurch einnahm“, sagte der Innenminister. „Und im Übrigen war Nevrotek kerngesund. Von Carstheim soll für die finanzielle Schieflage verantwortlich gewesen sein.“
„Er wollte Le Train um jeden Preis verwirklichen.“
„Frau Engelhard. Seine aggressive Geschäftspolitik hat schon so manchen ruiniert.“
„Zu seiner Ehrenrettung muss aber gesagt werden, dass er fast nur in Deutschland und Europa entwickeln und produzieren lässt. Selbstbewusst kämpft er für den europäischen Wirtschaftsraum. Für die Chinesen ist er eine unerwünschte Person. Sie sind verärgert darüber, dass die Bühler Firmengruppe nichts in China produzieren lässt. Außerdem nehmen sie es ihm übel, dass er in einem Interview gesagt hat, dass die Chinesen mehr Arbeitsplätze im europäischen Mittelstand vernichtet haben, als der Schwarze Freitag. Unterm Strich hat von Carstheim in Deutschland und Europa auch weit mehr Arbeitsplätze geschaffen, als zerstört. Er ist ein Mann, der bereit ist, schwierige unpopuläre Wege zu gehen, um Deutschland und Europa wirtschaftlich in die richtige Position zu bringen.“
Beeindruckt hatte der Innenminister den Ausführungen seiner Staatssekretärin gelauscht.
„Ich bin erfreut darüber, wie schnell und genau Sie sich über Sachlagen und Menschen informieren können. Sie sollten aber wissen“, in großväterlichem Ton sprach der Innenminister auf Dana ein, „dass von Carstheim einige Geschäfte nur zustande gebracht haben soll, weil er Männer und gerade Frauen von sich überzeugen konnte. Beim Nevrotek Deal soll ihm das Kindermädchen eines Vorstandsmitgliedes die nötigen Informationen besorgt haben. Ich kann Sie vor seiner Ausstrahlung nur warnen. Seien Sie auf der Hut.“
Dana fühlte sich ertappt.
„Was meinen Sie?“
„Sagen Sie es mir.“ Der Innenminister hatte den großväterlichen Ton abgelegt.
„Ich kann nur bestätigen, dass er ein zielbewusster Mann ist“, sagte Dana.
„Das kann man wohl sagen. Denken Sie nur an den Ausspruch, der ihn berühmt gemacht hat.“
„Ich denke nicht, dass er das wirklich gesagt hat.“
„Glauben Sie mir. Er hat es. Aber wollen wir das Gespräch nicht bei einem Drink an der Hotelbar fortsetzen?“
In jeder anderen Situation hätte Dana eingewilligt. Sie mochte es, sich gepflegt und