Schindling spielte mit dem Gedanken, die Frage zu überhören, besann sich aber eines Besseren.
„Es geht um die Deutsche Einheit“, sagte er und stieg vom Rednerpult. „Und eine Partei, die aussagt, dass die DDR kein Unrechtsstaat war und die Stasi-Aufklärung mit Hexenverbrennungen vergleicht, kann in diesem Konflikt keine Hilfe sein“, fuhr er Schönborn an.
„Herr Schindling, dass Sie eine demokratisch gewählte Partei von solch wichtigen Gesprächen fernhalten, zeigt mir, dass Sie nicht geeignet für den Posten sind, den Sie bekleiden.“ Durch die Sitzreihen stapfte Schönborn zu Schindling ans Rednerpult.
Beinlich, der Fraktionsvorsitzende der FDP, wühlte sich ebenfalls nach vorne.
„Dass Sie den Bundeskanzler nicht mit seinem Titel ansprechen“, sagte Beinlich zu Schindlings Verwunderung, „beweist uns allen, dass Sie nicht bereit sind, die Demokratie in diesem Land zu akzeptieren.“
„Sie haben es gerade nötig! Ihre Partei ist doch ein Geschwür in der Demokratie der Bundesrepublik“, erwiderte Schönborn. „Sie vertreten doch nur die Interessen Ihrer Freunde und Geldgeber. Ihre Partei sollte nur für Auserwählte heißen.“
„Jetzt reicht es mir mit dem roten Pack.“
Ein Abgeordneter der CDU sprang hinzu. Er stellte sich Schönborn in den Weg und drückte ihn weg von Schindling.
„Was soll das? Lassen Sie das“, rief Schönborn. Mehrere Abgeordnete seiner Partei eilten zu ihm und drängten auf den Abgeordneten der CDU ein.
„Sie haben mir gar nichts zu sagen“, erwiderte der Abgeordnete und mit den Händen schlug er um sich.
Der Plenarsaal verwandelte sich in ein Tollhaus.
Schindling aber fehlte die Zeit zu schlichten. Ob die spontane Entscheidung, die Links Partei und die AfD von den Beratungen fernzuhalten, richtig war, würde die Zukunft zeigen.
Es wird schwer genug, die Parteien zu einer übergreifenden dauerhaften Zusammenarbeit zu bewegen. Doch mit diesen Politikern am Tisch werden sich die übrigen Fraktionen nie von einem gemeinsamen Vorgehen überzeugen lassen. Trotz dieser Gedanken war Schindling unglücklich über seine Entscheidung. Die Reaktion der Bevölkerung und der Presse hatten gezeigt, dass das Parlament dabei war, die Kontrolle über sich und Deutschland zu verlieren.
Köln | Amtssitz des Verfassungsschutzes
Fröhlich war unschlüssig darüber, wie er vorgehen sollte. Der Innenminister hatte ihm zwar freie Hand gegeben, aber auch betont, dass Fingerspitzengefühl gefragt war.
„Wir haben einen Haftbefehl und die Rückendeckung des Innenministers. Sobald Sie ihr Team beisammen haben, schlagen Sie zu“, sagte er zu Wallner, dem Chef der GSG 9.
„Normalerweise habe ich eine Mannschaft parat. Aber Sie wollten ja, dass keiner der Männer eine persönliche Bindung in den Süden besitzt. Das bereitete mir gewisse Schwierigkeiten. Das Team musste ausgesiebt werden“, erklärte Wallner seine verspätete Einsatzbereitschaft.
„Schon gut“, sagte Fröhlich verständnisvoll.
Auf Anweisung des Innenministers hatte er Wallner damit beauftragt von Carstheim festzunehmen. Im Allgemeinen war es üblich, dass ein SEK-Team des betreffenden Bundeslandes solch eine Festnahme durchführte. Da der Innenminister und er den Beamten in Baden-Württemberg aber nicht mehr trauen konnten, hatten sie beschlossen diesen Auftrag der Grenzschutztruppe 9 zu übergeben.
Deren Verschwiegenheit war garantiert und bis auf den Einsatz in Bad Kleinen sprach deren Erfolgsbilanz für sich. In all ihren Einsätzen hatte die GSG 9 auf deutschem Boden nur eine Handvoll Schüsse abgegeben und von Carstheims Festnahme musste unbedingt reibungslos verlaufen. So schon war das eine heikle Angelegenheit, deren rechtliche Absicherung auf wackligen Beinen stand. Der Innenminister wollte aber ungeachtet der möglichen Konsequenzen ein Zeichen setzen.
„Kein Mensch kann voraussehen, was als Nächstes geschieht. Die Situation ist verfahren. Sie müssen davon ausgehen, dass die örtlichen Behörden Widerstand leisten und dass die Zielperson bestens geschützt wird“, sagte Fröhlich.
„Der Auftrag wird dezent und schnell erledigt. Es wird aber Proteste geben.“
Wallner hatte sein Vorgehen schon im Kopf und da der Überraschungseffekt auf ihrer Seite war, bestand für ihn kein Zweifel am Erfolg.
Bald schon würde von Carstheim sich in Berlin vor dem Innenminister verantworten müssen.
„Bestätigen die Umfrageergebnisse das vereinte Deutschland, ist Ihr Eingreifen ohnehin unnötig.“ Entgegen seines zupackenden Charakters hoffte Fröhlich, dass der Zugriff im letzten Moment noch abgesagt würde.
Die im Raum stehenden Umfragen mussten einfach einen Fortbestand der Republik sichern, ansonsten würde auch von Carstheims Festnahme nichts an der Sezession ändern.
Berlin | Schloss Bellevue | 11 Uhr
Ferdinand von Preußen, der jüngere Bruder von Friedrich dem Großen, hatte das 1786 fertiggestellte Schloss Bellevue, vom ersten Tag an, für sich in Beschlag genommen. Jahrelang diente es ihm als Lustschloss. Bestehend aus drei Flügeln, war es im frühklassizistischen Stil erbaut worden. 1994 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker seinen Amtssitz in das Schloss verlegt. Die Umbauarbeiten hatten sich schwierig gestaltet und bis in die Amtsperiode von Roman Herzog hinein gedauert.
Brigitte Weihmar, die derzeitige Bundespräsidentin, trug ihr langsam ergrauendes braunes Haar offen. Ihr ebenmäßiges Gesicht strahlte stets Optimismus aus. Seit Jahren führte sie die Rangliste der beliebtesten deutschen Politiker an. Sie hatte die Bürger von sich überzeugt, weil sie nie ein Blatt vor den Mund genommen hatte. Ihre Zugehörigkeit zur CDU war im Laufe ihrer Amtszeit mehr und mehr in den Hintergrund gerutscht. Deutlich hatte sie zu verstehen gegeben, dass sie sich keinen parteipolitischen Zielen unterordnen wollte. Am Ende seines Wahlkampfs hatte Seidel, Schindlings Vorgänger, Vertrauten gegenüber geäußert, dass es ein Fehler war, sie zur ersten Bundespräsidentin ernannt zu haben. Ihre Neutralität war mit dafür verantwortlich, dass er abgewählt wurde. Schindling hatte sie als geerbtes Übel akzeptiert. Er war der streitbaren Frau so gut es ging aus dem Weg gegangen. Noch am Abend seiner Wiederwahl hatte er sich vorgenommen, ihre erneute Kandidatur zu verhindern. Die Sezession hatte diesem Vorhaben jedoch einen Riegel vorgeschoben. Ihre Beliebtheit machte sie vorerst unangreifbar.
„Es fällt mir schwer, zu realisieren, dass wir uns über den Erhalt der Deutschen Einheit Sorgen machen müssen“, sagte die Bundespräsidentin. Auf Schindlings Drängen hin hatte sie eine Verabredung mit dem Litauischen Botschafter abgesagt.
„Wer konnte auch damit rechnen, dass Steiger, Heinrichs und Schreiber politischen Selbstmord begehen“, sagte Schindling.
„Ob sie etwas wissen.“ Die Bundespräsidentin kannte jeden der drei südlichen Ministerpräsidenten persönlich. Sie hatte die drei als konservative Speersitze der CDU wahrgenommen. Dass sie aber Anführer einer solchen Bewegung sein würden, hatte sie ihnen nicht zugetraut.
„Was sollte das sein?“ Ein Verdacht überkam Schindling. „Wir haben zu lange weggeschaut. Ich hätte das Sezessionsgeschwätz der Vereine nicht als albern abtun sollen. So hat keiner mitbekommen, was für eine Bewegung im Untergrund entstanden ist.“
„Wie auch?“, erwiderte die Bundespräsidentin. „Nichts deutete darauf hin, dass die Idee auf eine breite Zustimmung stoßen könnte.“
„Ein fataler Irrtum.“
„Noch ist es nicht zu spät, was erwarten Sie von mir?“
Die Offenheit der Bundespräsidentin erleichterte Schindling eine Antwort.
„Die neue Regierung braucht Ihre Unterstützung. Sie müssen uneingeschränkt zu ihr halten.“
Dass